Diplomatische Mission in Plovdiv So leben die Roma in Bulgarien

Plovdiv · Während Deutschland hitzig über die Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien diskutiert, machen sich zwei FDP-Politiker im Herkunftsland der ethnischen Minderheit der Roma ein Bild von den dort herrschenden schockierenden Lebensbedingungen.

 Triste Wohnhäuser, vermüllte Straßen und Armut prägen das Stadtbild von Stolipinovo.

Triste Wohnhäuser, vermüllte Straßen und Armut prägen das Stadtbild von Stolipinovo.

Foto: Ton Koene/dpa

Gleich hinter dem Kreisverkehr auf dem Boulevard Maritsa beginnt das Elend von Plovdiv. Über schlammige Straßen mit Schlaglöchern führt der Weg durch eine Siedlung mit tristen Betonwohnblöcken. Bei genauerer Betrachtung klaffen in vielen Treppenaufgängen große Löcher, durch die der Wind pfeift. Unrat, wohin der Blick auch schweift. Auf den Plätzen zwischen den Betonklötzen schießen illegal errichtete, windschiefe Hütten aus dem Boden, denen man ansieht, dass das Baumaterial wüst zusammengesammelt wurde: Wellblech, Holz, Ziegel und Stromleitungen, die einem deutschen Elektriker die Tränen in die Augen treiben würden.

Ein Regenschauer hat die Gassen aufgeschwemmt, ablaufen kann das trübe Wasser nicht. Hunde streunen umher, schnüffeln an den Verkaufsständen, mit kargem Angebot — überwiegend Obst, Gemüse und knallbunte Plastikflaschen mit Softdrinks. Dazwischen haben Pfandhäuser und Metallverwertungsläden ihre Ladenlokale. Auf den Straßen sind Menschen mit finsteren Mienen unterwegs, viele in Jogginganzügen. Ein kleiner Junge, höchstens acht oder neun Jahre alt, steht begleitet von zwei Freunden und einem kleinen weißen Hund an einer Straßenecke, lässig klemmt eine brennende Zigarette in seinem Mundwinkel — wer in einer solchen Umgebung aufwächst, muss schnell erwachsen werden.

 Anton Karagyozov (l.) von der Organisation Roma 1995 zeigt Andreas Graf Lambsdorff (Mitte) und Joachim Stamp die Roma-Siedlung Stolipinovo.

Anton Karagyozov (l.) von der Organisation Roma 1995 zeigt Andreas Graf Lambsdorff (Mitte) und Joachim Stamp die Roma-Siedlung Stolipinovo.

Foto: Max Plück

Willkommen in Stolipinovo, einer Roma-Siedlung in Plovdiv, der zweitgrößten Stadt Bulgariens. Willkommen in der dritten Welt, mitten in Europa. 50.000 Roma leben hier auf nicht einmal einem Quadratkilometer. Auf der zweiten Hauptstraße der Siedlung, dem Boulevard Landos, hat sich eine Menschentraube gebildet. Neugierig scharen sich Roma und bulgarische Journalisten um zwei Männer aus Deutschland: Der eine ist Alexander Graf Lambsdorff, liberaler EU-Abgeordneter und Neffe des FDP-Urgesteins Otto Graf Lambsdorff. Neben ihm steht der FDP-Fraktionsvize im nordrhein-westfälischen Landtag, Joachim Stamp. Sie sind auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung auf einer selbstgewählten Mission, man mag fast schon sagen: auf einer diplomatischen — jenseits von Populismus und Sozialromantik.

Diskussion um Armutsmigration immer schriller

"Wir müssen aufhören, übereinander zu reden, und sollten stattdessen anfangen, miteinander zu reden", sagt Lambsdorff ernst und entschlossen in die Mikrofone. Wohl keinen anderen Satz wird er während des knapp 36-stündigen Bulgarien-Aufenthalts häufiger sagen. Er sagt ihn auf einer Podiumsdiskussion. Er sagt ihn zu Journalisten, zu Roma-Vertretern und vor allem zu bulgarischen Politikern wie der stellvertretenden Premierministerin Daniela Bobeva.

Vor dem Reiseantritt hatten ihn Kollegen aus dem Europa-Parlament gewarnt. Ob das so eine gute Idee sei, sich auf das Thema Armutsmigration zu beschränken? Er hat es trotzdem getan. Ob aus Wahlkampferwägung — schließlich ist Lambsdorff FDP-Spitzenkandidat für die im Mai anstehende Europawahl? Wohl kaum. Mit einem Thema wie Armutsmigration gewinnt man keine Wahlen, man verliert sie höchstens. Aber die Diskussion in Deutschland kocht höher und höher, seit Roma sich in Dortmund, Duisburg oder Köln niederlassen und dort Welten aufeinanderprallen. Die Angst vor einem Zuzug in die deutschen Sozialsysteme grassiert und die Diskussion wird mit Worten wie "Sozialtourismus" und "Schmarotzer" immer schriller — spätestens seit Bulgaren und Rumänen in den vollen Genuss der Arbeitnehmerfreizügigkeit kommen.

In Bulgarien selbst leben etwa 700.000 Roma — das sind zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Seit Jahrhunderten wird die ethnische Minderheit diskriminiert und verfolgt. Ja, die "Gypsis" seien ein Problem, hatte schon am Vortag der junge Taxifahrer gesagt. "Sie betteln und klauen. Sie arbeiten nicht und leben von Sozialhilfe in kostenlosen Wohnungen. Das ist alles Geld, das den Bulgaren fehlt." Dass auch die Roma Bürger des Landes sind, sieht er nicht. Solche Ansichten sind weit verbreitet. Und es gibt Gründe: die schwache Wirtschaft, ein niedriges Durchschnittseinkommen (in Sofia liegt es bei etwa 400 Euro), dazu explodierende Energiekosten. Wer gut ausgebildet ist, verlässt das Land. Zugleich ist die einzig wachsende Bevölkerungsgruppe die der Roma. Das bereitet den Nährboden für Rechtsradikale. Die Neonazis von Ataka sitzen mit 23 von 240 Sitzen im Parlament.

"Es bleibt viel zu tun"

Stamp und Lambsdorff haben sich inzwischen losgeeist und laufen durch Stolipinovos Gassen. Anton Karagyozov, Mitglied der Selbsthilfegruppe Roma 1995 und Vorsitzender des Young Roma Club, begleitet die Delegation. Er berichtet nüchtern von der finanziellen Unterstützung für Kinder, deren Väter tot oder im Gefängnis sitzen, deren Mütter sie in Stolipinovo zurückgelassen haben, um in Westeuropa mit Prostitution Geld zu verdienen. Er berichtet von den strengen Klan-Strukturen, etwa dass eine Frau von einem Mann "gestohlen" werden kann, wenn sie ihn nicht heiraten will. Im Klartext heißt das Vergewaltigung und anschließende Hochzeit. Jeder dieser Sätze verfehlt seine Wirkung nicht. In das Buch der Organisation, in das sich zuvor schon der britische Prinz Charles bei einem Besuch eingetragen hat, schreibt Stamp von der europäischen Verantwortung, "dass alle Menschen frei und in Würde leben können". Lambsdorff ergänzt: "Es bleibt viel zu tun und gemeinsam muss es gemacht werden".

Nur vier Kilometer weiter entfernt liegt eine andere Welt. Adrett herausgeputzt ist der Vorplatz des Rathauses von Plovdiv. Die malerische Stadt mit ihrem thrakischen Amphitheatern und der liebevoll restaurierten Altstadt würde gerne 2019 Kulturhauptstadt Europas werden. Doch die Gruppe ist nicht hier, um mit dem stellvertretenden Bürgermeister Georgi Tityukov über die schönen Seiten zu sprechen. Zum Warmwerden macht Lambsdorff zwar noch einen Fußballwitz; anschließend die Worte über das Miteinander- statt Übereinander-Sprechen und wie willkommen gut ausgebildete Bulgaren in Deutschland seien, die ja die Mehrheit der Zuwanderer ausmachten.

Dann wird Tacheles geredet: Man könne nicht zulassen, dass mitten in Europa Menschen ohne fließend Wasser, ohne Energie, umgeben von Müll lebten, sagt Stamp. Versteinerte Mienen aufseiten der Gastgeber, die mit 15 Vertretern der Stadt- und Regionalbehörden erschienen sind. Lambsdorff erkundigt sich, warum Gelder des EU-Sozialfonds nicht abgerufen würden, ob man die illegalen Roma-Bauten nicht nachträglich legalisieren könne und was sonst für die Minderheit getan werden könne.

Korruption erschwert Umsetzung von EU-Projekten

Ja, es gebe doch den Nationalen Plan für die Roma 2012 — 2020, der unter anderem auf den Punkten Bildung, Gesundheit, Wohnungen, Kultur und Sport beruhe, sagt eine Vertreterin des regionalen Integrationsrates. Aber der Staat lasse die Kommunen bei dessen Umsetzung allein. Geld gebe es nicht. Und die Beantragung der EU-Mittel sei schlicht zu kompliziert. Man versuche derzeit, den Roma neue Wohnungen zu bauen und sie an den Bauarbeiten zu beteiligen, fügt der Vizebürgermeister hinzu. Auch müsse darüber nachgedacht werden, die Wehrpflicht wieder einzuführen, um den Bildungsstand zu verbessern. Oder aber die Roma-Kinder müssten mit Bussen in andere Stadtteile gefahren werden, um dort mit bulgarischen Kindern zu lernen.

Was die Stadtvertreter nicht sagen ist, dass die Korruption die Umsetzung von EU-Projekten erschwert und dass so mancher Bulgare sogar froh ist, wenn die Roma das Land in Richtung Westen verlassen. Auch ist fraglich, inwieweit die Roma überhaupt an einer Integration interessiert sind oder sich mit ihren Lebensbedingungen längst eingerichtet haben, wie etwa die bulgarische Journalistin Zdravka Andreeva, meint: "Sie sind glücklich mit ihrem Leben. Wir müssen ihnen einfach nur mehr Raum geben."

Am Ende verabreden beide Seiten, dass man sich künftig bei sozialen Projekten gegenseitig helfen werde. Stamp und Lambsdorff wirken vorsichtig optimistisch. Ihre Botschaften: Hilfe für die Roma vor Ort — finanziell, aber auch durch einen Abbau der Ressentiments, dazu eine bessere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene und mehr Hilfe in Deutschland. "Wir müsse jetzt erst einmal abwarten, ob unsere Botschaft angekommen ist", sagt Lambsdorff.

Zumindest ein Ziel hat er erreicht: Man hat miteinander, statt übereinander geredet.

(maxi)
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