"Blutiger Sonntag" vor 50 Jahren Freiheitskampf in Selma

Selma · Am 7. März 1965 schlugen US-Polizisten einen ersten Marsch von Bürgerrechtlern in Selma brutal nieder. Doch am Ende stand der Triumph im Kampf um Gleichberechtigung. 50 Jahre danach ringt der Ort um seine Identität.

Reginald Moore ist wieder auf der Brücke, wie vor 50 Jahren. Und er erzählt, als sei es erst gestern gewesen. Über die Edmund Pettus Bridge zogen Tränengaswolken, als wäre der Alabama River in Nebel gehüllt. Polizisten schlugen mit schweren Knüppeln auf Fliehende ein. Am schlimmsten waren die Polizisten auf Pferden, die dem Jungen vorkamen wie apokalyptische Reiter.

An dem Tag haben sie ihre vollen Bürgerrechte erkämpft, die 600 Demonstranten, die in Zweierreihen über die Brücke marschierten, bis ihnen ein blauer Block von Uniformierten den Weg nach Montgomery versperrte, in die gut 80 Kilometer entfernte Hauptstadt Alabamas. Als die Polizei knüppelte, unterbrach der Sender ABC einen Spielfilm, so dass 48 Millionen Amerikaner zusahen, wie der Polizistenmob wütete.

Es war ein Moment, der das Land veränderte. Präsident Lyndon B. Johnson setzte den "Voting Rights Act" durch, womit das Wahlrecht für schwarze Amerikaner, theoretisch garantiert seit dem Ende des Bürgerkriegs, nicht mehr nur auf dem Papier stand. Was immer sich weiße Rassisten an Tricks einfallen ließen, um es auszuhebeln - eine Wahlsteuer, willkürliche Lesetests -, wirkte nun nicht mehr.

Am Tag von Selma war Reginald Moore zehn. Er saß im Auto neben seinem Großvater. "Granddad sagte: Hab keine Angst. Wenn sie uns angreifen, dann schieße ich, dir wird niemand was tun. Aber er hatte ja nur sechs Patronen in seinem Revolver." Reginald schaffte es bis nach Hause an jenem 7. März 1965. Der Schock saß tief, doch verletzt wurde er nicht, zumindest nicht körperlich. Bis heute trägt er die Bilder des "Bloody Sunday" mit sich herum, im Gedächtnis und gespeichert auf seinem Smartphone.

Eines zeigt seine Mutter Margaret Moore, Lehrerin für Englisch und Geschichte. Erschöpft, benebelt vom Gas, steht sie hinterm Pfeiler einer Stromleitung und blickt auf eine Kolonne parkender Streifenwagen. Dahinter erkennt man schemenhaft die Helme der State Trooper, der berüchtigten Polizeibeamten von Alabama. Es sind körnige Bilder, aufgenommen direkt nach der Prügelorgie. Irgendwann war Reginalds Mutter zurück in ihrer Kirche, Brown Chapel, wo der Theologiestudent John Lewis sprach, obwohl er einen blutigen Verband um den Kopf trug. Lewis ist heute Kongressabgeordneter, nach Margaret Moore ist ein Anbau des Gotteshauses benannt. Sieger der Geschichte.

Ja, das sei erreicht, aber sonst gehe nichts voran, sagt Moore und erzählt von den Schulen. In den Sechzigern teilten sich Schwarze und Weiße erstmals ein Klassenzimmer. "Heute ist die Rassentrennung zurückgekehrt, nur eben übers Geld." Weiße Kids gehen auf private Schulen, schwarze auf staatliche.

Brown Chapel liegt in einer Armensiedlung. Junge Männer lehnen am Zaun und wissen nicht, wie sie die Zeit totschlagen sollen. Drinnen handelt die Predigt des Pfarrers von der Überlegenheit gewaltfreier Proteste. "Eine Armee mit der seltsamen Strategie zivilen Ungehorsams, eine Armee von Turnschuhsoldaten, zieht los gegen bis an die Zähne bewaffnete Trooper. Gott gegen Gewehre", dröhnt Leodis Strongs Bariton. Der Status quo habe bekanntlich verloren, trotz der Knüppel, der Peitschen, der Kavallerie. Wer immer für etwas kämpfe und in schwerer Stunde zu zweifeln beginne, der möge an Selma denken.

An der Broad Street reihen sich leere Läden an solche, deren Besitzer sich gerade noch über Wasser halten. "One Way Bookstore": die Fenster mit Sperrholz verrammelt. "Cahaba Furniture": zu vermieten. Selmas Hauptstraße ist gründlich heruntergekommen. Die Stadt steckt in der Krise, ein Drittel der 18 000 Bewohner lebt in Armut, ein Fünftel der Erwerbsfähigen ist arbeitslos. Früher gab es in der Nähe eine Luftwaffenbasis, Craig Field. Als sie 1977 geschlossen wurde, brach der größte Arbeitgeber weg.

Faya Touré sitzt zwischen Papierstapeln an einem sehr langen Tisch. An den Wänden, gemalt in Öl, afrikanische Königinnen. Im Büro der Rechtsanwältin jagt eine Beratung die nächste, denn zum runden Jahrestag kommt Barack Obama nach Selma und mit ihm 100 Kongressabgeordnete. Für Faya Touré, die ein Netzwerk von Aktivisten organisiert, werden es schwierige Tage. Sobald es heißt, ein Obama im Oval Office sei doch das beste Beispiel dafür, wie sich Amerika ändere, muss sie Einspruch erheben: "Nicht bei uns! Nicht im tiefen Süden!"

Faya Touré hieß Rose Sanders, bevor sie den Namen ihrer versklavten Vorfahren ablegte. Nach dem Studium in Harvard gründete die Pfarrerstochter eine Anwaltskanzlei. Die Urenkel der Sklaven, sagt sie, hätten das Erbe der Sklaverei noch lange nicht überwunden. Noch immer niste in vielen Hinterköpfen der Gedanke, Weiße seien schlauer, Weiße seien überlegen, Weißen sollte man nicht widersprechen, "der ganze Unsinn der letzten 400 Jahre".

Deshalb habe der dunkelhäutige Bürgermeister von Selma auch ein Denkmal für die Rassisten des Ku-Klux-Klan geduldet, statt zu sagen: Auf keinen Fall, das sei ja so, als würde man einen Nazi in Deutschland ehren. "Wir sollen vergessen und verzeihen, was man uns angetan hat. Nein! Was wir brauchen, ist schwarzes Selbstbewusstsein."

(RP)
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