Selenskyj besucht ukrainischen Vorort "Diese Arbeit muss getan werden" - Butscha birgt seine Toten

Kiew · Über einen Monat lang war die ukrainische Kleinstadt Butscha von russischen Truppen besetzt. Nach der Rückeroberung vergangener Woche wurde das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung offenbar.

Krieg Ukraine: So läuft der Kampf um Kiew - Fotos
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Kampf um Kiew

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Foto: dpa/-

Ljuba führt ihren Nachbarn zum Rand der Grube im nassen Lehmboden. Hier in dem Massengrab soll sein Bruder liegen - eines der vielen Opfer der Gräueltaten im ukrainischen Butscha, für die Kiew die russische Armee verantwortlich macht. Doch dem Mann fehlt die Kraft, einen Blick auf die Toten zu werfen. Er sackt auf einem umgefallenen Baumstamm zusammen.

In der Grube seien 57 Menschen notdürftig bestattet worden, sagt ein städtischer Angestellter. Einige stecken in schwarzen Leichensäcken, ein Toter ist in ein rot-weißes Bettlaken eingewickelt, daneben liegt eine rosa Frauensandale. Viele sind nicht einmal vollständig begraben. Hier ragt eine blasse Hand aus der Erde, dort ein Fuß in einem Stiefel. Schnee fällt auf die Toten, im Hintergrund sind die goldenen Kuppeln einer Kirche zu sehen.

Über einen Monat lang war die Kleinstadt im Nordwesten von Kiew von russischen Truppen besetzt und schwer umkämpft. Nach der Rückeroberung durch die ukrainische Armee Ende vergangener Woche wurde das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung offenbar. "Das sind Kriegsverbrechen, und sie werden von der Welt als Völkermord anerkannt werden", sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch in Butscha.

"Diese Wunde wird nie heilen", ist sich die 62 Jahre alte Ljuba sicher. Sie fügt hinzu: "Das würde ich nicht einmal meinem ärgsten Feind wünschen."

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Auf einer schmalen Straße in der Nähe des Massengrabes liegen weitere Tote. Vier Männer sind mit einem Transporter zwischen den Häuserruinen unterwegs, um die Leichen zu bergen. Einer der Toten hat seine Beine in den Rädern eines Fahrrads verheddert, andere liegen neben von Kugeln durchlöcherten Autos. Alle tragen Zivilkleidung.

Einem sind die Hände mit einem weißen Stoffstreifen auf dem Rücken gefesselt, sein in eine Kapuze gehüllter Kopf liegt in einer roten Lache. Witali Schreka versucht, den Stoff zu zerschneiden, aber sein Taschenmesser versagt. Stattdessen entknotet der 27-Jährige die Fessel mit seinen blutverschmierten Handschuhen und zieht den Toten in einen Leichensack.

Die Männer suchen die Leichen nach Ausweispapieren ab, um sie zu identifizieren. Dann legen sie sie in den Frachtraum. Als zwei Hunde sich den Toten nähern, wirft einer der Arbeiter ein Fahrrad nach ihnen. "Diese Arbeit muss getan werden", sagt Wladyslaw Mintschenko. Der 44-Jährige steht vor einem weiteren Toten, daneben liegen verschrumpelte Kartoffeln - der letzte Einkauf.

Die russischen Besatzer hätten verboten, die Toten zu begraben, sagt der städtische Angestellte Serhij Kaplytschnij. "Sie sagten, wir sollten sie liegen lassen, solange es kalt ist." Schließlich hätten die Russen seinem Team erlaubt, die Getöteten aus der Leichenhalle zu holen. "Wir haben mit einem Traktor ein Massengrab ausgehoben und alle begraben", sagt Kaplytschnij. Jetzt koordiniert er die Bergungsarbeiten in der Stadt.

Ukrainische Soldaten feiern den Sieg über den Feind in Butscha. Sie umarmen sich, kleine ukrainische Flaggen werden verteilt. Hilfskonvois rollen in die Stadt. Doch der Triumph macht den Horror der vergangenen Wochen nicht vergessen. An einem Tag habe sein Team zehn Leichen mit Kopfschüssen geborgen, sagt Kaplytschnij und fügt bitter hinzu: "Offenbar hatte ein Scharfschütze seinen Spaß."

(chal/AFP)
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