Viele tote Alte und Migranten Tödliche Bilanz

Stockholm · Schwedens lockerer Umgang mit der Corona-Pandemie hat vor allem viele alte Menschen und Migranten das Leben gekostet. Die Zweifel an der Strategie der Regierung wachsen. Aber noch hält sich die Kritik in Grenzen.

 Staatsepidemiologe Anders Tegnell vor einem TV-Interview. Auf Tegnells Empfehlungen beruht der Corona-Kurs der schwedischen Regierung.

Staatsepidemiologe Anders Tegnell vor einem TV-Interview. Auf Tegnells Empfehlungen beruht der Corona-Kurs der schwedischen Regierung.

Foto: imago images/TT/ERICSSON MARCUS/Aftonbladet via www.imago-images.de

lan Shamoun zündet ein ewiges Licht am Grab seiner Mutter auf dem Friedhof von Spånga im Norden Stockholms an. Der 39-Jährige kniet in einem frischen Gräberfeld für die zahlreichen Toten der Corona-Pandemie. Auf den Kreuzen stehen viele arabische oder rumänische Namen. Migranten wie die 78-jährige Mutter Shamouns liegen hier begraben. Teresia Jarjis floh 1996 als Christin aus dem Irak nach Schweden. Ihr Sohn zupft Unkraut zwischen einem herzförmigen Gedenkstein und einer Marienstatue aus Gips. Dann erzählt er seine Geschichte.

Er ist ein Sohn, der sich stets fürsorglich um seine betagten Eltern gekümmert hat. Shamoun arbeitet als Qualitätsmanager für ein schwedisches Unternehmen. Anfang des Jahres erhält er eine E-Mail von einem in China in Quarantäne feststeckenden Kollegen. Er liest von einem neuartigen und besonders für alte Menschen gefährlichen Virus. Er bittet seine Eltern möglichst zu Hause zu bleiben. Es verletzt Shamoun, dass die schwedischen Behörden das niedrige Bildungsniveau von Migranten als Ursache für die vielen Toten im Norden Stockholms ausmachen. „Ich habe meine Eltern dagegen schon im Januar vor dem Virus gewarnt“, sagt Shamoun.

Am 5. März 2020 sucht seine an Diabetes leidende Mutter für eine jährliche Routineuntersuchung das örtliche Gesundheitszentrum auf. Was kann bei einem Arztbesuch schon schiefgehen? Wenige Wochen später stirbt sie an Corona, und der Sohn ist sich sicher, dass sie in der Klinik zum Sterben aussortiert wurde.

Shamoun hat erst nach dem Tod seiner Mutter in der Universitätsklinik Karolinska Huddinge herausgefunden, dass seine Mutter am 5. März einen Arzttermin hatte. „Ich habe auf dem Friedhof eine Frau getroffen, deren Mann ebenfalls Anfang März einen Termin bei dem gleichen Gesundheitszentrum hatte. Er liegt jetzt ein paar Reihen entfernt von meiner Mutter“, erzählt Shamoun.

Am 8. März klagt Teresia Jarjis über Unwohlsein. Sie bekommt Bauchschmerzen und verliert den Appetit. Ihr Sohn kämpft zwei Wochen lang vergeblich um eine Behandlung der Mutter. Am 13. März schickt sie ein Kardiologe wieder nach Hause. „Er meinte, im Krankenhaus sei es wegen Corona gefährlich“, sagt Shamoun. Vier Tage später bittet die Mutter darum, einen Krankenwagen zu holen. Die Familie ruft die Notrufnummer an. Aber der Krankenwagen aus der Sankt-Göran-Klinik will die Frau zunächst nicht mitnehmen. „Sie sagten, sie sei ja schon im Krankenhaus abgewiesen worden“, sagt Shamoun. „Ich musste dann unser Gesundheitszentrum anrufen und ihnen das schildern. Dann erst erhielten die Pfleger das Okay, sie in die Klinik zu bringen“, sagt Shamoun.

Die Mutter wird dann in die Universitätsklink Karolinska Huddinge verlegt. Die Ärzte wissen nach einem Test, dass sie mit dem Coronavirus infiziert ist. Ihr Zustand verschlechtert sich. Die 78-Jährige wird aber nicht auf die Intensivstation verlegt. Am 22. März, einem Sonntag, meldet sie sich bei der Familie. Niemand reagiere, obwohl sie immer wieder wegen schlimmer Schmerzen den Notfallknopf gedrückt habe. Am 23. März ist Shamouns Mutter tot.

Das Karolinska Universitätsklinikum ist zu einem Synonym für das Sterben in Stockholm geworden. Viele der knapp 2400 Corona-Toten in der circa 975.000 Einwohner zählenden Hauptstadt Schwedens taten hier ihren letzten Atemzug. Das Klinikum ist stolz darauf, dass die Intensivstation nie die Grenzen ihrer Kapazität überschritt. Die Behörden der Region Stockholm hatten für diesen Fall die Triage vorgesehen – eine Auswahl nach Überlebenschancen. Die Ärzte hätten Patienten über 80 Jahren oder mit Vorerkrankungen von einer Intensivbehandlung ausgeschlossen.

Die schwedische Tageszeitung „Dagens Nyheter“ veröffentlichte jedoch am 24. April einen Bericht, wonach die Triage sehr wohl angewendet wurde. Die Zeitung berief sich auf Whistleblower aus der Klinik. Ihnen zufolge fehle Personal. Also seien Patienten nach Alter und gesundheitlichem Zustand priorisiert worden. Alan Shamoun glaubt, dass seine Mutter zu jenen gehörte, die wie von „Dagens Nyheter“ beschrieben dem Virus überlassen wurden. Deshalb habe das Personal ihre Notrufe ignoriert.

Die schwedische Untersuchungsbehörde für das Gesundheitswesen will die Vorgänge in der Karolinska-Klinik nun aufklären lassen. Shamoun hat aber Zweifel, ob Antworten gefunden werden. Und nicht nur er ist überzeugt, dass das Versagen Schwedens in der Coronakrise weiter geht als die möglicherweise geheimgehaltene Triage in einer der größten Universitätskliniken Europas.

Lisa Pellimng, Chefanalystin der gewerkschaftsnahen Denkfabrik Arena Idé, empfängt in ihrem Büro im Zentrum von Stockholm unweit der Einkaufsmeile Drottninggatan. Dort wirkt das Treiben zwischen den Filialen von H&M und anderer Ketten sommerlich leicht. Passanten schlecken Eis beim Schaufensterbummel. Die Stockholmer tragen statt Maske Sonnenbrillen und Einkaufstüten. Die Analystin glaubt, dass ein kurzer Lockdown den Schweden eine Atempause verschafft hätte, um fehlendes Material für die Pflege zu besorgen. Und sie ist sich sicher, dass das Virus ein auf Effizienz getrimmtes Gesundheits- und Pflegesystem schachmatt gesetzt hat. Die Expertin beschreibt, wie die Regierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte das Gesundheits- und Pflegesystem kaputt gespart hätten.  Wegen des reduzierten Personals seien die Krankenhäuser mit dem Patientenandrang rasch überfordert gewesen, sagt sie. Pelling verweist auf Zahlen, denen zufolge Schweden auch über weniger Intensivplätze und Beatmungsgeräte verfügte und weniger Ausrüstung bevorratete als jedes vergleichbare Land in Europa. „Niemand hat an die Möglichkeit einer Krise gedacht“, sagt sie. „Es stimmt, dass es in den Intensivstationen stets genug Plätze gegeben hat – für 40-Jährige“, sagt Pelling.

Die Expertin kritisiert, dass Erkrankte aus Seniorenheimen nicht in Kliniken verlegt wurden, wo sie mit Sauerstoff hätten versorgt werden können. Sie bekamen stattdessen Palliativmedizin – Beruhigungs- und Schmerzmittel, die den Erstickungstod erleichtern. Die Regierung räumt Fehler beim Schutz der Seniorenheimbewohner mittlerweile ein.

Der Tod der Alten und das Sterben der Migranten könnte über den Pflegesektor miteinander verknüpft sein, vermutet Pelling. Privatunternehmen übernehmen für die Gemeinden den Unterhalt von Seniorenheimen. In ihnen arbeiten viele Hilfskräfte, fast ausschließlich Migranten. Sie kommen stundenweise zum Einsatz. Während die festangestellten Pfleger sich mit Corona-Symptomen krankschreiben ließen, kamen die Stundenkräfte zur Arbeit, ohne auf das Virus getestet zu werden.

Die Krankenschwester Lina Petersson und der Arzt Johan Rodling erholen sich bei einem Feierabendbier im Bistro Banana im zentralem Stadtbezirk Södermalm. Wer die Bar betritt, muss nicht zur Nasen- und Mundbedeckung greifen. Petersson und Rodling haben den Höhepunkt der Pandemie im April und Mai in der auf Infektionskrankheiten spezialisierten Abteilung der Danderyd-Klink im Norden von Stockholm erlebt. Das Krankenhaus behandelte nach dem Karolinska-Krankenhaus die meisten Covid-19-Patienten in Stockholm. Auch hier starben viele Patienten. Aber beiden scheint die Betonung wichtig, dass das schwedische Gesundheitssystem anders als etwa in der Lombardei nicht in die Knie gegangen ist.

22 schwedische Gesundheitsexperten veröffentlichten Ende Juli einen Brief in der amerikanischen Zeitung „USA Today“. Daran warnten sie die USA, dem Beispiel Schwedens zu folgen. Für die Kritiker steht fest, dass das skandinavische Land den Schulbesuch bis zur neunten Klasse erlaubte, Geschäfte und Restaurants geöffnet ließ und immer noch keinen Maskenzwang kennt, weil es stur am Konzept der sogenannten Herdenimmunität festhalte. Der Chefepidemiologe der Regierung, Anders Tegnell, weist das allerdings zurück.

Die schwedisch Autorin Elisabeth Åsbrink rätselt in der Innenstadt von Kopenhagen über die Gründe für den Sonderweg ihrer Heimat in der Pandemie. Sie fühlt sich derzeit wohler in Dänemark. Ende März erschien ein Essay von ihr in der Zeitung „Dagens Nyheter“. „Es herrschte damals eine tödliche Stille in der Debatte um Corona. Ich musste mich äußern“, sagt sie. Åsbrink stellte in ihrem Beitrag einen Zusammenhang her zwischen der Geschichte Schwedens und der aus ihrer Sicht langsamen Reaktion der Regierung auf die Pandemie. Von allen europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts verschont, fehlten den Schweden die Antennen für eine Bedrohungslage, analysierte Åsbrink. Ein Sturm der Empörung war die Reaktion. „Ich wurde von meinem eigenen linksliberalen Milieu mit Hitler verglichen“, sagt die jüdische Autorin. Sie bemerke in ihrem Land einen Nationalismus, den die seit den 30er Jahren dominante Sozialdemokratie progressiv tarne. „Patrioten kritisieren ihr Land, weil sie es lieben, in Schweden ist man Nestbeschmutzer“, sagt sie.

Wer wie sie Zweifel an der Coronastrategie der rot-grünen Regierung äußert, gelte im Mitte-Links-Lager als heimlicher Unterstützer der Schwedendemokraten. Die Rechtspopulisten geißeln die Corona-Strategie der Regierung als „Massaker“. Schweden fänden abweichende Meinungen unheimlich, sagt die Autorin. „Wir sind es gewohnt in Reih und Glied im Namen des Fortschritts zu marschieren“, meint Åsbrink. Ihre Landsleute gefielen sich in der Rolle des Vorreiters für soziale Gerechtigkeit. Den Praxistest bestehe das Selbstbild immer seltener, findet Åsbrink. Für alte, schwache und chronisch kranke Menschen gebe es in einem Land, das bis in die 70er Jahre mit der Eugenik flirtete und Menschen zwangssterilisieren ließ, gar eine Tradition der Geringschätzung, glaubt sie. „Ich denke, die Reaktion in Schweden wäre anders, wenn 6000 junge Menschen gestorben wären.“ 

 Alan Shamoun am Grab seiner Mutter in Stockholm. 

Alan Shamoun am Grab seiner Mutter in Stockholm. 

Foto: Rehman

Die Corona-Katastrophe in den Altenheimen und den Migrantenvierteln anzusprechen, wagten nur jene, die über den schwedischen Tellerrand hinausblickten. „In meinem Fall heißt es, ich sei mit einem Dänen verheiratet, daher kämen meine Ideen“, meint Åsbrink. Derzeit erlebe Schweden in der Coronakrise eine Polarisierung, die Åsbrink mit dem britischen Brexit-Streit vergleicht. Familien und Freundeskreise entzweiten sich an der Haltung gegenüber dem Virus. Das Virus zerre die hässlichen Seiten Schwedens ans Tageslicht, meint sie. „Noch weigern wir uns, das zu sehen.“

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