Sozialdemokratie in der Krise Schweden, wohin man sieht

Düsseldorf · Die Wahlen im einstigen Musterstaat legen offen, was die etablierten Parteien nicht wahrhaben wollen. Die Menschen erwarten, dass die Politiker ihre realen Ängste ernst nehmen. Gerade die Sozialdemokraten tun sich damit sehr schwer.

 Anders Ygeman,  Fraktionschef der Sozialdemokratischen Partei Schwedens.

Anders Ygeman, Fraktionschef der Sozialdemokratischen Partei Schwedens.

Foto: dpa/Jonas Ekstromer

Schon erklingt das übliche Pfeifen im Wald: „Es hätte schlimmer kommen können.“ Aber Verblüffung ist nicht zu überspielen: In Schweden, dem Stamm- und Musterland der Sozialdemokratie, schaffte diese noch 26 Prozent. Die Rechtspopulisten wurden drittstärkste Kraft. Den Volksparteien kommt das Volk abhanden. Offenbar hat man sich bei uns daran gewöhnt. Ein historisch schlechtestes Ergebnis folgt dem anderen. In den Niederlanden landete die stolze „Partei der Arbeit“ (früher über 30 Prozent) auf 5,7 Prozent, fast gleichauf mit der Tierschutzpartei. Europa, wir haben ein Problem!

Es läuft viel schief. Da ist nicht mehr schwankendes Wetter. Es ist ein dramatischer Klimawandel. Das ist ein europaweiter Trend. Ein solches Schwinden könnte im Verschwinden enden. Schweden ist kein Fall, sondern ein Fanal. Nach 100 Jahren großer Geschichte und einem Grad von Versorgungsstaat und gesellschaftlichem Reichtum, von dem andere träumen, ist das Ergebnis desaströs. Offenbar ging es nicht um das Abstrafen einer verkrusteten Struktur. Was dort abstürzt, ist ein erschöpft wirkendes politisches Modell. Die Schweden empfinden, die Leistungen ihres voll verstaatlichten Gesundheits- und Bildungswesens stünden nicht mehr im Verhältnis zu den Kosten.

In den Ohren vieler Menschen sind Schlecht-, besonders aber Schönredner die Populisten. Nüchterne Analyse, die mit den eigenen Wahrnehmungen übereinstimmt, wird geschätzt. Dass so viele überwiegend den neuen Rechten und Herrn Trump zutrauen zu sagen, was ist, und auszudrücken, was man nur denkt, ist schauerlich. In Schweden haben die Rechten den Zusammenhang zwischen Kürzungen im Wohnungsbau, in der Gesundheit, im Bildungs- und Sicherheitsbereich und den Kosten alter und neuer Zuwanderung hergestellt. Es ist ihnen gelungen, das als „Mutter aller Probleme“ von vielen lernen zu lassen. Die anderen Parteien haben die Themenwende zu spät gemerkt.

Ein Weckruf auch für deutsche Sozial- und andere Demokraten? Wenn in Europa die Linke gegen rechts verliert, ist die Analyse am Wahlabend fast stereotyp: „Wir waren nicht konsequent links genug.“ Die Fokussierung auf linke Themen und Truppen hat nicht funktioniert. Warum sollte ein „Weiter so“ klappen? Sehenden Auges wird man nicht mehr leugnen können: Die Populisten haben entdeckt, wie leicht man Demokratie mit demokratischen Mitteln aushebeln kann. Internet und „soziale“ Medien bieten Werkzeuge, von denen frühere Demagogen nur träumen konnten. Die Torwächter des Korrekten werden überspielt.

Innerhalb des linken Lagers hat sich nicht nur eine thematische Verengung und Entfremdung ergeben zu den Leuten, von denen man gewählt werden will. Es gibt auch eine soziale Verengung des Parteipersonals. „Auf uns hört ja doch keiner“, ist im Bürgerkontakt der meistgehörte Satz. Politik muss die Realitäten ernst nehmen. Man muss sich ehrlich auseinandersetzen mit dem, was die Menschen umtreibt: Die Sicherheitsfrage, die Überforderung bestimmter Systeme, und ganz sicher auch die Migrationspolitik, die im moralisch getragenen Willkommensrummel nie trennscharf unterschied zwischen dem Menschenrecht auf Asyl und einem geordneten Einwanderungsrecht.

Unabdingbar und erste Aufgabe verlässlicher Politik ist die Anerkennung der Wirklichkeit. Die Leute haben Sorgen. Man kann nicht sagen: „Stellt euch nicht so an! Alles ist gut. Kennt ihr nicht die neueste Statistik? Also Schluss mit der Angst!“ Die Kommunikationswissenschaft lehrt: Der Befehl „Sei spontan!“ ist dumm und wirkungslos. Wer sich weigert, reale Probleme schonungslos zu thematisieren und sich durch glaubwürdiges Handeln zu legitimieren, erzeugt ein Vakuum, das rechte Gruppierungen bereitwilligst besetzen. Er hätte auch aus dem schwedischen Beispiel nichts gelernt.

Warum geht mir eine Anekdote nicht aus dem Kopf: Ich habe schwedische Freunde in einer ländlichen Region. Beim Besuch vor 30 Jahren fiel mir auf, dass es völlig üblich war, die Haustür nicht abzuschließen. Jeder Dieb wusste, dass sich ein Missbrauch dieses Vertrauens strafverschärfend auswirken würde. Heute schließen meine Freunde und ihre Nachbarn die Häuser ab. Sogar ein Sicherheitsschloss wurde angeschafft. Da hat ein Kulturwandel stattgefunden. Da streut jemand „Keime“ in den Kreislauf der Gesellschaft, was am Ende einen Herzklappenfehler erzeugt. Da ist ein banal erscheinendes Faktum entstanden, über das es keine öffentliche Diskussion gibt, aber das wirkt.

Bodo Hombach (SPD) war der Vordenker von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und ist heute Vizechef der Brost-Stiftung.

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