Kein Kommentar von Putin Mehr als 1000 Festnahmen bei Demonstration in Russland

Moskau · Die bevorstehenden Regionalwahlen in Russland sind für den Kreml und Wladimir Putin ein wichtiger Stimmungstest. Viele Moskauer befürchten aber Manipulationen schon im Vorfeld und gehen auf die Straße. Am Samstag gab es rund 1000 Festnahmen.

 Polizisten führen eine Frau während einer nicht genehmigten Kundgebung im Zentrum von Moskau ab.

Polizisten führen eine Frau während einer nicht genehmigten Kundgebung im Zentrum von Moskau ab.

Foto: dpa/Pavel Golovkin

Mehr als 1000 Menschen sind bei einer Protestkundgebung in der russischen Hauptstadt Moskau festgenommen worden. Diese Zahl nannte die Polizei am Samstagabend, wie die Agentur Interfax meldete. 1074 Teilnehmer der Demonstration gegen den Ausschluss zahlreicher Oppositionspolitiker von der Regionalwahl Anfang September seien wegen „verschiedener Straftaten“ in Polizeigewahrsam gekommen, hieß es demnach.

Am Nachmittag hatte die Polizei noch von knapp 300 Festgenommenen gesprochen. Das Bürgerrechtsportal OWD-Info, das Festnahmen bei Demonstrationen erfasst, listete am Abend ebenfalls mehr als 1000 Fälle auf.

Den Beamten zufolge wurden insgesamt rund 3500 Teilnehmer gezählt. Die Kundgebung am Rathaus war von den Behörden zuvor nicht genehmigt worden. Die Sicherheitskräften hatten ausdrücklich vor einer Teilnahme gewarnt und ein hartes Durchgreifen angekündigt.

Auf Moskaus Prachtstraße, die direkt zum Kreml führt, stehen sich zwei Gruppen wie an einer Front gegenüber. Tausende Demonstranten mit Bannern auf der einen Seite, Polizisten mit Schlagstöcken auf der anderen. Der Zorn der Protestierenden richtet sich gegen die Stadtbehörden: den kremltreuen Bürgermeister Sergej Sobjanin, die Wahlkommission und auch gegen die Einsatzkräfte. „Ihr seid eine Schande für Russland“, skandieren sie gegenüber dem Rathaus mitten auf der Twerskaja Straße.

„Russland wird frei sein“, hört man noch weit in die Seitengassen hinein, wohin die Demonstranten von der Polizei gedrängt werden. Manche klettern über Absperrungen, verschwinden in Parks, einige suchen Schutz in einer kleinen Kirche im Stadtzentrum. Stundenlang ziehen sie durch die Stadt, doch am Ende werden mehr als 1000 Menschen festgenommen - junge Studenten, Familienväter und auch Rentner landen im Polizeibus.

Die Moskauer gehen seit mehr als zwei Wochen täglich auf die Straße, die Proteste ebben nicht ab. „Dopuskaj“ - auf Deutsch etwa: „Lass' sie zu“ - ist die stets wiederholte Forderung. Hintergrund ist, dass in wenigen Wochen das Stadtparlament der 12-Millionen-Metropole neu gewählt wird, aber sich auf der Wahlliste kaum Oppositionspolitiker finden. Dutzenden Kandidaten wurde der Weg zur Abstimmung kurzerhand versperrt; die Wahlkommission diagnostizierte schwere Formfehler.

Die bekannten Kremlkritiker Ilja Jaschin, Ljubow Sobol oder auch bei Dmitri Gudkow hätten Unterstützungserklärungen gefälscht, hieß es. Die Opposition hält dies für ein plumpes Manöver der Behörden, denn sie könnten der angeschlagenen Kremlpartei Geeintes Russland die Stimmen wegnehmen.

Die Regierungspartei mit ihrem Vorsitzenden Dmitri Medwedew kämpft nämlich an einer eigenen Front: Die Bevölkerung macht sie für die schlechte Wirtschaftslage im Land verantwortlich. Sie hat eine umstrittene Rentenreform durchgebracht, gleichzeitig sinken neben Löhnen auch der Lebensstandard. Für Geeintes Russland könnte die Regionalwahl, in der auch über 16 Gouverneure in der Provinz abgestimmt wird, deshalb dramatisch ausfallen.

„Seien wir ehrlich: Uns geht es beschissen. Die Renten sind niedrig, das Gesundheitssystem ist ein Witz. Wir wollen was ändern, werden daran aber vom System gehindert“, sagt die Moskauerin Irina bei der Demonstration und deutet auf das Rathaus hinter ihr. Vom majestätisch wirkenden Balkon des Bürgermeisters weht die Stadtfahne und die Flagge Russlands in den Nationalfarben Weiß, Blau und Rot. „Wir haben eine Meinung, und Sobjanin soll wissen, dass wir dieses Vorgehen nicht gut finden“, sagt ihre Freundin Margarita, während im Minutentakt neben ihr Menschen festgenommen werden.

Jaschin, Gudkow und Sobol schafften es nicht mal zum Protest, sie wurden bereits auf dem Weg zur Demo festgenommen. Genauso erging es Putins härtesten Kritiker, Alexej Nawalny. Er hatte federführend zu dem Protest aufgerufen und daraufhin 30 Tage Arrest kassiert. Büros und Wohnungen der Politiker wurden durchsucht, der Oppositionssender Doschd TV bekam bei einer Livesendung Besuch von der Polizei.

„Ich habe immer Angst vor der Festnahme. Jedes Mal, wenn ich zum Protest auf die Straße gehe“, flüstert Natalja, ihre Familie lebt seit Generationen in der russischen Hauptstadt. Sie sitzt auf einer Parkbank mitten im Geschehen, in der Hand hält sie den Tolstoj-Klassiker „Krieg und Frieden“. Hinter ihr steht ein Polizist mit Schlagstock in der Hand. „Aber noch mehr Angst habe ich vor der Zukunft: Dass diese Schummeleien und Manipulationen Alltag werden.“

Was die Moskauerin ausspricht, denken einer Umfrage zufolge auch viele Russen. Sie fühlen sich bei wichtigen Entscheidungen schlicht übergangen, wie eine Umfrage des Umfrageinstituts Lewada unlängst ergab. In ganz Russland gibt es oft Fälle, bei denen umstrittene Gesetze oder auch Bauvorhaben quasi ohne Bürgerbeteiligung einfach durchgedrückt werden.

In Jekaterinburg am Ural setzen sich die Bewohner wegen eines Kirchenbaus gegen die einflussreiche Russisch-Orthodoxe Kirche zur Wehr. Dann setzen sich die Menschen für den zu Unrecht festgenommenen Journalisten Iwan Golunow ein - mit Erfolg. „Die Menschen merken, sie können auf lokaler Ebene durchaus etwas erreichen“, sagte die Politologin Tatjana Stanowaja der Deutschen Presse-Agentur. „Deswegen will und kann der Kreml kein Fenster für die Opposition aufmachen.“ Im Machtzentrum Moskau müsse er hart durchgreifen, bevor die Büchse der Pandora geöffnet und die Lage schwer steuerbar werde.

Präsident Putin kommentierte die Lage wenige Minuten von seinem Arbeitsplatz am Kreml entfernt nicht. Am Protesttag tauchte er in einem Mini-U-Boot am Finnischen Meerbusen. Sein Statthalter Sobjanin kommentierte die Lage vor seinem Büro mit wenigen Sätzen auf Twitter: „Das alles führt zu nichts Gutem.“

(felt/dpa)
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