Truss-Regierung vor dem Aus? Chaotische Szenen im britischen Parlament

London · Das Chaos in der britischen Regierung scheint immer größer zu werden. Im Gegenzug schwindet der Rückhalt der Premierministerin unter ihren Konservativen. Unklar ist, ob sie sich noch lange halten kann.

 Liz Truss, Premierministerin von Großbritannien, spricht während der Fragestunde der Premierministerin (Prime Minister's Questions) im Unterhaus.

Liz Truss, Premierministerin von Großbritannien, spricht während der Fragestunde der Premierministerin (Prime Minister's Questions) im Unterhaus.

Foto: dpa/Jessica Taylor

Nach dem Abgang eines zweiten wichtigen Kabinettsmitglieds binnen einer Woche und einer chaotisch verlaufenen Abstimmung im Unterhaus kämpft die britische Premierministerin Liz Truss um ihr politisches Überleben. Am Donnerstag forderten weitere Abgeordnete ihrer eigenen Konservativen Partei ihren Rücktritt. Truss trat erst vor sechs Wochen die Nachfolge von Premier Boris Johnson an.

In der Regierung herrschten chaotische Zustände, sagte der konservative Abgeordnete Simon Hoare im Sender BBC. Niemand habe einen Fahrplan, alles gleiche „Handgemengen auf täglicher Basis“. Truss habe „etwa zwölf Stunden“, um die Lage zu drehen. „Es ist Zeit für die Premierministerin zu gehen“, erklärte die Abgeordnete Miriam Cates. Und ihr Kollege Steve Double sagte: „Sie ist dem Job leider nicht gewachsen.“

Auch den Tories nahe stehende Zeitungen äußerten scharfe Kritik. „Die Räder sind vom Clown-Wagen der Tories abgefallen“, lautete die Schlagzeile eines Leitartikels in der „Daily Mail“.

Die Ministerin für internationalen Handel, Anne-Marie Trevelyan, sprang der Premierministerin am Donnerstag bei und erklärte, die Regierung sorge für Stabilität. Dass Truss die Partei bei den nächsten Wahlen anführen werde, konnte sie aber nicht garantieren. „Momentan glaube ich, dass das der Fall ist“, sagte sie im Rundfunk.

Liz Truss: Nachfolgerin von Boris Johnson
24 Bilder

Das ist Liz Truss - Nachfolgerin von Boris Johnson

24 Bilder
Foto: AFP/PAUL FAITH

In Meinungsumfragen liegt die oppositionelle Labour-Partei deutlich vorn und baute ihren Vorsprung zuletzt aus. Viele Konservative setzen ihre Hoffnung daher auf eine Ablösung von Truss. Uneinigkeit herrscht unter ihnen darüber, wie das ohne das Risiko größerer Schäden für die Partei bewerkstelligt werden soll. Zudem gibt es keinen Favoriten für die Nachfolge. Wie lange Truss, die sich im Parlament als „Kämpferin“ bezeichnete, in dieser Gemengelage an der Macht halten kann, ist ungewiss.

Innenministerin Suella Braverman war am Mittwoch als zweites wichtiges Kabinettsmitglied binnen einer Woche zurückgetreten, in der Unterhausfraktion der Konservativen kam es am Abend laut Berichten bei einem Votum zu Tumulten und Auseinandersetzungen.

Im rechten Flügel der konservativen Partei war Braverman wegen ihrer restriktiven Einwanderungspolitik populär. Im Sommer stieg sie ins Rennen um die Nachfolge des Anfang Juli zurückgetretenen Johnson ein, im parteiinternen Wettkampf setzte sich letztlich Truss durch. Die Regierungschefin ersetzte Braverman durch Grant Shapps, den früheren Verkehrsminister unter Johnson. Shapps gilt als Unterstützer des ehemaligen Ex-Finanzministers Rishi Sunak, der Truss in der Endrunde des Nachfolgerennens um den Parteivorsitz und die Regierungsspitze unterlegen war.

Mit weiterem Aufruhr war Truss am Mittwochabend im Unterhaus konfrontiert, wo eine Abstimmung über die Förderung von Schiefergas mittels Fracking anstand - eine Praxis, die die Premierministerin trotz Widerstands von vielen Parteikollegen wiederbeleben möchte. Die oppositionelle Labour-Partei brachte einen Antrag für ein Fracking-Verbot ein, der zwar mit der Mehrheit der konservativen Tories abgelehnt wurde. Doch etliche Tories sollen eher unwillig mit Nein gestimmt haben.

Während und nach der Abstimmung spielten sich im Unterhaus chaotische Szenen ab. Die Party Whips der Konservativen, die für die Einhaltung der Fraktionsdisziplin zuständigen „Einpeitscher“, sollen mitunter handgreiflich geworden sein, um passende Stimmen zu bekommen. Später herrschte Fassungslosigkeit über das chaotische Votum, bei dem Truss selbst es aus unbekannten Gründen versäumt hatte, ihre Stimme abzugeben, wie aus einer offiziellen Statistik hervorging.

Die jüngsten Ereignisse folgen auf das Fiasko an den Finanzmärkten, das Truss und der jüngst von ihr gefeuerte Finanzminister Kwasi Kwarteng mit ihren Steuer- und Wirtschaftsplänen entfesselten. Als erste Amtshandlung kassierte der neu ernannte Schatzkanzler Jeremy Hunt fast das gesamte Paket mit Steuerkürzungen im Umfang von 45 Milliarden Pfund (rund 52 Milliarden Euro) ein und kündigte „viele schwere Entscheidungen“ vor der Vorstellung eines mittelfristigen Haushaltsplans Ende Oktober an. Kaum etwas dürfte auch von Truss' Versprechen übrig bleiben, die Staatsausgaben nicht zu kürzen.

Die Premierministerin entschuldigte sich am Mittwoch im Unterhaus in ihrer ersten Fragestunde seit ihrer Kehrtwende und räumte Fehler ein.

(peng/mzu/dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort