Nach Protesten in Brasilien Rousseff verschafft sich eine Atempause

São Paulo · Selbst der Fußball rückte angesichts der Proteste in Brasilien in den Hintergrund: Etwa zwei Wochen lang gingen Millionen Menschen auf die Straße und forderten politische Reformen sowie Maßnahmen gegen Korruption. Dass Präsidentin Dilma Rousseff tagelang schwieg, kostete sie viel Sympathie. Mittlerweile ist sie auf die Demonstranten zugegangen, hat ein Referendum vorgeschlagen, bei dem das Volk über notwendige Veränderungen abstimmen soll.

Ein Toter bei Protesten in Brasilien
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"Sie hat sich viel Zeit gelassen", sagt die Soziologin Helena Singer von der Universität in São Paulo. "Aber dann hat sie die Themen angesprochen, um die es den Demonstranten ging. Sie hat Vorschläge gemacht zu Verbesserungen bei der Gesundheitsversorgung und der Bildungspolitik." Nach Ansicht politischer Beobachter hat Rousseff die Protestwelle anfangs falsch eingeschätzt und erst nach und nach begriffen, wie groß der Unmut in der Bevölkerung wirklich ist. Ihr wenn auch spätes Eingreifen habe zur Beruhigung der Situation beigetragen.

Der 84-jährige Cristiano Gulias hat die Demonstranten von Anfang an unterstützt. "Wir kämpfen dafür, dass die Politiker Millionen gebrochene Versprechen endlich einhalten", sagt er. "Wir wollen, dass man uns anhört." Jetzt sei die Zeit gekommen, sich an einen Tisch zu setzen und mit den Politikern zu verhandeln.

Eben das ist es, was Rousseff jetzt versucht: Der Bevölkerung zu versichern, dass ihre Anliegen ernst genommen werden. Derzeit wird überlegt, welche Themen in der von ihr angeregten Volksabstimmung zur Sprache kommen sollten. Darüber hinaus hat Rousseff angekündigt, sie wolle Ölkonzerne dazu bringen, in Bildungseinrichtungen zu investieren, sie hat versprochen, mehrere Milliarden Dollar in den Ausbau des Nah- und Fernverkehrs zu stecken und Ärzte aus dem Ausland anzulocken, die in den unterversorgten medizinischen Zentren arbeiten sollen. Ihre Regierung will sich mehrerer Themen annehmen: Bildung, Verkehr, Gesundheitsversorgung, politische Reformen sowie Steuergerechtigkeit und Kampf gegen Inflation.

Dies - ebenso wie der brasilianische Erfolg beim Confederations Cup und der Beginn der großen Ferien - hat der Protestbewegung den Wind aus den Segeln genommen und Rousseff erst einmal eine Atempause verschafft. Ausgestanden dürfte die Sache für die Präsidentin nicht sein: Denn eines der größten Probleme der Regierung steht bislang nicht auf ihrer Tagesordnung: Die Wirtschaftspolitik. Kritiker sagen, der Staat greife hier zu sehr ein und verschrecke damit ausländische Investoren. Mehr Wettbewerb sei notwendig. "Mit keinem Wort hat Rousseff bisher das Wirtschaftsproblem angesprochen", kritisiert der Politologe Alexandre Barros. "Die Wirtschaft stagniert, und die Preise steigen. Die Menschen müssen ihren Konsum zurückschrauben, das führt zu Angst und Verärgerung in der Mittelschicht."

Dies bestätigt eine aktuelle Umfrage des Instituts Datafolha: Demnach sind 38 Prozent der Brasilianer der Ansicht, dass ihre Kaufkraft sinkt. Vor einem Jahr waren es 25 Prozent. Auch die Angst vor Arbeitslosigkeit ist gestiegen.

Die Sympathiewerte für Rousseff sind derselben Umfrage zufolge dramatisch gesunken - auf 30 Prozent von 57 Prozent drei Wochen zuvor. Nach Einschätzung der Politikberatungsfirma Eurasia Group bedeutet dies das Ende eines Zyklus', in dem Amtsinhaber absurd hohe Zustimmungswerte erhalten. Das politische Ende von Rousseff sei dies noch lange nicht. Die brasilianische Bevölkerung scheint das ähnlich zu sehen. Sie geben ihrer Präsidentin offenbar eine zweite Chance.

(ap)
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