Ukraine-Konflikt Riskantes Manöver

Kiew/Moskau · Analyse Russland lässt ukrainische Schiffe rammen und aufbringen. Kiew will jetzt das Kriegsrecht einführen und Moskau den UN-Sicherheitsrat einberufen. Dahinter steckt innenpolitisches Kalkül.

Es ist ein Nadelöhr, diese schmale Durchfahrt zwischen dem Schwarzen Meer und dem Asowschen Meer. Erst recht, seit Russland im Mai eine Brücke über die Kertscher Meerenge eingeweiht hat, die das russische Festland mit der von Moskau annektierten Halbinsel Krim verbindet. Seither spielt sich die russische Marine an der Meerenge auf, als stünden die Gewässer unter russischer Hoheit. Eine höchst brisante Situation – die am Wochenende prompt eskaliert ist.

Die Bilder wirken wie aus einem Kriegsfilm: Ein russischer Frachter stellt sich zur Seeblockade quer. Ein Boot der russischen Küstenwache rammt einen Schlepper der ukrainischen Marine. Schüsse fallen. Drei ukrainische Schiffe werden von russischen Spezialkräften geentert, es gibt Verletzte. Die ukrainischen Schiffe und 23 Matrosen werden festgesetzt.

Der Vorfall vor der Küste der annektierten Krim gibt beiden Seiten Interpretationsspielraum. Nach allem, was bislang bekannt ist, haben sowohl die russische als auch die ukrainische Führung ihre jeweilige Auslegung der geltenden Hoheitsrechte im Asowschen Meer dazu genutzt, zu provozieren beziehungsweise ein Exempel zu statuieren. Nach Moskauer Deutung sind ukrainische Marineboote illegal in russische Gewässer eingedrungen und wurden gestoppt. Nach Kiewer Interpretation hatten die eigenen Schiffe ein Durchfahrtsrecht und wurden angegriffen.

Es ist also wie häufig bei geopolitischen Konflikten. Jeder erzählt seine Geschichte, die man glauben kann oder auch nicht. Klar ist aber, dass die Annexion der Krim 2014 durch Russland die Spannungen überhaupt erst verursacht hat. Denn eigentlich werden das Asowsche Meer und die Straße von Kertsch von Russland und der Ukraine gemeinsam verwaltet. Beide Staaten dürfen auf See Inspektionen durchführen, aber Handels- und Marineschiffen beider Länder wird die freie Fahrt garantiert. Das sieht das Abkommen vor, das Russlands Präsident Wladimir Putin und der damalige ukrainische Staatschef Leonid Kutschma 2003 vereinbart hatten. Und dieser Vertrag ist trotz der Krim-Annexion und des von Russland unterstützten Kriegs in der Ostukraine offiziell bis heute in Kraft.

In Wirklichkeit freilich hat der Konflikt zwischen beiden Ländern längst auch das Asowsche Meer erreicht. Die Ukraine wirft Russland vor, es blockiere die ukrainischen Häfen Mariupol und Berdjansk. Seit die  Brücke über die Kertscher Meerenge auf die Krim eröffnet ist, hat Moskau ein weiteres Mittel, um die ukrainischen Küste abzuschnüren. Die Brücke hat eine Höhe von 33 Metern, das ist zu niedrig für Hochseefrachter, die bislang Berdjansk und Mariupol anlaufen konnten. Die Regierung in Kiew schätzt, dass den Häfen mindestens ein Viertel der Einnahmen verloren gehen.

Die Brücke liefert den russischen Behörden auch den den offiziellen Vorwand für verstärkte Kontrollen in der Meerenge: Aus Sicherheitsgründen müsste die Schifffahrt überprüft werden, heißt es. Mehr als 150 ukrainische Schiffe seien allein in den letzten Monaten kontrolliert worden, sagt die ukrainische Regierung. Manchmal dauern die Überprüfungen Stunden, manchmal aber auch Tage, was schon sehr wie Schikane wirkt. Auch Schiffe unter EU-Flaggen sind von den Russen, die ihre Marine-Präsenz in der Region massiv ausgeweitet haben, zuletzt immer häufiger aufgehalten und kontrolliert worden. Die Ukrainer brachten ihrerseits im Frühjahr ein russisches Fischerboot in Berdjansk auf, die Behörden warfen dem Kapitän illegale Einreise vor. Schon Ende September verabschiedeten Abgeordnete des EU-Parlaments eine Resolution, die die „sehr ernsthafte Sorge über die zerbrechliche Sicherheitslage auf dem Asowschen Meer“ äußerte und vor einem offenen Konflikt warnte.

Diese Warnung scheint mehr als berechtigt, zumal beide Seiten ein innenpolitisch motiviertes Interesse an einer Verschärfung der Lage haben könnten. So steht Präsident Wladimir Putin in Russland seit Monaten unter erheblichem Druck, weil eine unpopuläre Rentenreform seine Beliebtheitswerte auf eine ungewohnte Talfahrt geschickt hat. In solchen Situationen hat Putin schon n der Vergangenheit geradezu reflexhaft nach Möglichkeiten zur außenpolitischen Profilierung gesucht.

Der Kremlchef hat längst große Routine darin entwickelt, durch Militäroperationen die nationale Stimmung im Land anzuheizen und sich auf diese Weise Entlastung zu verschaffen. So war es schon im Jahr 2000 mit dem Tschetschenienkrieg, der ihm ins Amt verhalf. So war es 2008 in Georgien, als er das Machtkonstrukt mit Interimspräsident Dmitri Medwedew absichern wollte. Und so war es eben auch 2014 bei der Annexion der Krim und im Jahr darauf in Syrien.

Aber auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko könnte versucht sein, mit nationalistischen Parolen oder militärischen Taten zu punkten. Im kommenden März muss er sich der Wiederwahl stellen, und nach dem aktuellen Stand der Umfragen sind seine Chancen äußerst dürftig. Hinter seinem Vorstoß, das Kriegsrecht im Land einzuführen, so argwöhnen Kritiker, stecke der Plan, die Wahl zu verschieben und als Kriegsrechtspräsident einfach weiterregieren.

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