Regierungskrise in London Johnson ernennt rasch Nachfolger nach Rücktritten zweier Minister

London · Innerhalb von wenigen Minuten reichten am Dienstag gleich zwei britische Minister ihre Rücktritte ein. Zwar ernannte Premier Boris Johnson noch am Abend ihre Nachfolger. Doch Beobachter zweifeln daran, dass sich der Premier nach zahlreichen Skandalen noch lange an der Macht halten kann.

 Boris Johnson (M), Premierminister von Großbritannien,bei einer Kabinettssitzung in der Downing Street.

Boris Johnson (M), Premierminister von Großbritannien,bei einer Kabinettssitzung in der Downing Street.

Foto: dpa/Justin Tallis

Die Rücktritte von zwei Schlüsselmitgliedern seines Kabinetts haben den britischen Premierminister Boris Johnson in eine neue Krise gestürzt und die Abgesänge auf seine Ära lauter werden lassen. Zwar ernannte Johnson noch am Dienstagabend Nachfolger für Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid, die als Konsequenz aus dem Schlingerkurs der Regierung im Umgang mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung durch ein hohes Fraktionsmitglied der konservativen Partei ihren Hut nahmen. Doch zweifeln Beobachter, dass sich der von vorangegangenen Skandalen gebeutelte Premier noch lange an der Macht halten kann.

Die aktuelle Affäre nahm am vergangenen Donnerstag Fahrt auf, als Chris Pincher als Vize-Fraktionschef der Konservativen zurücktrat. Hintergrund sind Vorwürfe, wonach er zwei Männer in einem Privatclub begrapscht haben soll. Sein Rücktritt trat eine Serie von Berichten über frühere Anschuldigungen gegen Pincher los - und warf die Frage auf, warum Johnson ihn dennoch im Februar auf den hohen Parteiposten gehievt hatte. Als stellvertretender Fraktionschef kam Pincher eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der Fraktionsdisziplin unter den Tories zu.

Aus Johnsons Büro verlautete zunächst, dass der Premier von den vorangegangenen Vorwürfen gegen seinen Parteifreund nichts gewusst habe, als er ihn befördert habe. Am Montag räumte ein Sprecher dann ein, Johnson habe von den Anschuldigungen gewusst, doch hätten sie „entweder geklärt werden können oder sich nicht zu einer formellen Beschwerde ausgewachsen“.

Die Darstellung erregte den Widerspruch von Simon McDonald, einem früheren Botschafter in Deutschland und ehemaligen Staatssekretär im britischen Außenministerium. Johnsons Büro habe die Unwahrheit darüber gesagt, was der Premier über die Vorwürfe gegen Pincher gewusst habe, schrieb McDonald in einem Brief an die Beauftragte für die Einhaltung parlamentarischer Standards. Beschwerden über Pinchers Verhalten hätten ihn bereits im Sommer 2019 erreicht - kurz nachdem Pincher ein Staatssekretär im Außenministerium geworden sei. Eine Untersuchung habe die Vorwürfe erhärtet, Pincher habe sich daraufhin entschuldigt, schrieb McDonald. „Herr Johnson wurde persönlich über die Einleitung und den Ausgang der Untersuchung informiert.“

Stunden später änderte die Downing Street ihre Darstellung erneut. Der Premier sei damals doch unterrichtet worden, habe aber dann vergessen, dass Pincher im Zentrum einer offiziellen Beschwerde gestanden habe, hieß es. Kurz vor den Rücktritten seiner Minister Javid und Sunak räumte Johnson vor Reportern ein, dass man Pincher nach dem Vorfall von 2019 hätte feuern sollen. Die Frage, ob die Berufung Pinchers ein Fehler gewesen sei, bejahte der Regierungschef. Er entschuldige sich, im Rückblick sei es die falsche Entscheidung gewesen.

Der bisherige Finanzminister Sunak ging in seinem Rücktrittsschreiben scharf mit Johnson ins Gericht. Die Öffentlichkeit erwarte zu Recht, dass die Regierungsgeschäfte ordnungsgemäß, kompetent und seriös geführt würden, schrieb er. „Es ist mir bewusst, dass das vielleicht mein letzter Ministerposten sein wird, aber ich bin der Auffassung, dass es sich lohnt für diese Standards zu kämpfen, und deshalb trete ich zurück.“

Ähnlich äußerte sich Javid und verwies in seinem Rücktrittsschreiben auf das Misstrauensvotum der Unterhaus-Fraktion der Konservativen gegen Johnson im Juni, dass der Premier überstand. Das Votum habe dennoch gezeigt, dass eine große Zahl von Tory-Abgeordneten das Vertrauen in Johnson verloren hätten, schrieb Javid. Dieser Moment hätte nach Demut, Tatkraft und einer neuen Richtung verlangt, doch sei ihm klar geworden, dass sich die Lage unter Johnson nicht ändern werde.

Die Abgänge zwei solch ranghoher Kabinettsmitglieder politisch zu überleben, werde für Johnson schwierig sein, prognostizierte Scott Lucas, emeritierter Professor an der Universität von Birmingham. Doch werde Johnson nicht aufgeben. „Er wird nicht ohne eine Kampf gehen“, erklärte Lucas. „Ich weiß nur nicht, wie viele Menschen übrig sind, die Seite an Seite mit ihm kämpfen.“

Viele Konservative zeigten sich frustriert, dass Regierungsmitglieder Aussagen Johnsons in der Öffentlichkeit vertreten mussten, die einen Tag später schon wieder kassiert wurden. Der Tory-Abgeordnete Roger Gale, ein langjähriger Johnson-Kritiker, warf dem Regierungschef vor, Staatssekretäre vorgeschickt zu haben, um für ihn zu lügen. Damit habe er den Ruf der Partei ruiniert. „Das darf so nicht weitergehen“, sagte Gale.

Kritik wurde an Johnson auch laut, weil er zunächst gezögert hatte, Pinchers Parteimitgliedschaft auszusetzen. Zu dem Schritt entschloss sich der Premier erst, nachdem wegen der Belästigungsvorwürfe formal Beschwerde bei Parlamentsstellen eingereicht wurde. Kritiker warfen dem Premier vor, er wolle verhindern, dass Pincher als Abgeordneter zurücktrete. Denn das würde zu einer Nachwahl für den Parlamentssitz führen, nachdem die Konservativen erst Mitte Juni zwei Nachwahlen krachend verloren hatten.

Schon vor dem Skandal um Pincher gab es Gerüchte, wonach Johnson ein weiteres Misstrauensvotum drohen könnte. Zwar müssen laut Statuten der Partei mindestens zwölf Monate zwischen solchen Abstimmungen liegen, doch ließen etliche Abgeordnete durchblicken, dass sie offen für eine Regeländerung seien. Zu dem ersten Misstrauensvotum gegen Johnson hatte die „Partygate“-Affäre um gesellige Treffen in dessen Amtssitz geführt, die trotz strikter Corona-Lockdowns gefeiert wurden.

(zim/dpa)
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