Türkei Erdogan zementiert die Spaltung seines Landes

Istanbul · Trotz aller Skandale bleibt die Partei des Premiers stärkste politische Kraft. Doch das Land zerfällt immer stärker in zwei Lager.

 Sitzt fest im Sattel: Recep Tayyip Erdogan.

Sitzt fest im Sattel: Recep Tayyip Erdogan.

Foto: AFP, AFP

Yusuf Altuntas lebt den türkischen Traum. Als er vor neun Jahren aus einem anatolischen Dorf nach Istanbul kam, da hatte er nichts. Heute ist er Besitzer einer Eigentumswohnung und überlegt, ob er einen Kredit für eine zweite aufnehmen soll. Dabei ist Altuntas kein Finanzjongleur oder Fußballprofi, sondern Hausmeister, 37 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Auf seinen Wohlstand ist er stolz. "Das verdanke ich Recep Tayyip Erdogan", sagt er.

Altuntas arbeitet in der Bakrac-Straße im Istanbuler Viertel Cihangir. Vom Bosporus dringt das Geschrei der Möwen herauf, die Cafés sind gut besetzt. Altuntas macht in der Straße ein paar Besorgungen, erst in der Apotheke, dann in einem Laden für Haushaltswaren. Auch Nese Yakici, 57, verbringt ihren Tag in der Bakrac-Straße.

Sie hilft ein paar Häuser weiter im Restaurant ihrer Tochter aus. Doch die beiden könnten auch in zwei völlig verschiedenen Welten leben. Wenn Yakici nur den Namen des türkischen Ministerpräsidenten hört, geht ihre Wut mit ihr durch. "Diktatur ist das, wie bei Saddam", schimpft sie. "Keiner, der auch nur ein wenig Bildung hat, wählt den." Altuntas kann die Bemerkung nicht hören, doch überraschen würde sie ihn nicht.

In Cihangir wohnen viele Intellektuelle, Künstler und Filmleute. Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat das Viertel beschrieben, sein "Museum der Unschuld" ist gleich um die Ecke. Der zentrale Taksim-Platz mit dem Gezi-Park ist nur einen Steinwurf entfernt. Cihangir ist eine Hochburg der säkularistischen Oppositionspartei CHP, doch im Stadtbezirk Beyoglu, zu dem das Viertel gehört, regiert die Erdogan-Partei AKP.

Gezi-Unruhen, Korruptionsskandal, Twitter-Verbot — jedes einzelne dieser Ereignisse hätte in Westeuropa ausgereicht, um eine Regierung zu stürzen. In der Türkei jedoch gewinnt Ministerpräsident Erdogan die Kommunalwahl, als wäre nichts geschehen. Landesweit erhielt die AKP bei dem Urnengang Ende März 45 Prozent, die CHP nur 28.

Hausmeister Altuntas zählt zu den Wählern, die der AKP diesen Erfolg ermöglicht haben. Er erzählt von seinem Heimatdorf in der nordostanatolischen Provinz Tokat, das ihm vor einem Jahrzehnt keine Perspektiven mehr bieten konnte. "Es gab keine Jobs, keine vernünftigen Schulen, und die Straßen waren nur Feldwege. Inzwischen ist dort alles asphaltiert."

Der Erdogan-Gegnerin Nese Yakici sagt das überhaupt nichts. Sie sehnt den säkularistischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurück, doch der ist schon seit fast 80 Jahren tot. "Es müsste ein neuer Atatürk kommen, dann wäre Schluss mit der AKP", sagt sie.

Altuntas kann sich noch gut an die Zeiten der kurzlebigen Koalitionsregierungen erinnern, die sich vor Beginn der AKP-Regierungszeit Ende 2002 in Ankara die Klinke in die Hand gaben, während die Wirtschaft in die Knie ging. "Damals gab's von morgens bis abends nur Krise." Unter Erdogan hat sich das türkische Bruttoinlandsprodukt verdreifacht. Aber nicht nur der gewachsene Wohlstand bringt Erdogan die Unterstützung von Leuten wie Altuntas ein. Fast noch wichtiger sind die sozialen Verschiebungen unter der AKP-Regierung in den letzten elf Jahren.

Die Kemalisten, die Anhänger des Atatürk'schen Säkularismus, und ihre Partei, die CHP, beherrschten die Türkei über Jahrzehnte und schauten auf Menschen wie Altuntas herab. "Mein Vater hat damals den Koran versteckt aus Angst vor den Kemalisten", sagt er. "Die legten Geld auf den Tisch und schickten ihre Söhne zum Kurzwehrdienst nach Antalya, aber die Kinder der armen Leute starben im Kurdenkrieg." Erdogan hat die kemalistischen Eliten von den Schalthebeln der Macht verjagt, er hat das Verbot des islamischen Kopftuchs im öffentlichen Dienst aufgehoben. "Tayyip Erdogan ist wie ein Vater, der hinter dir steht", sagt Altuntas.

Genau das jagt Nese Yakici kalte Schauer der Angst über den Rücken. Korrupt sei Erdogan, und ein Wahlbetrüger obendrein. "Solange Tayyip da ist, wird's hier nicht besser. Aber das sehen die Dörfler ja nicht." Sie meint Dörfler wie den Hausmeister Altuntas, der keine 200 Meter weiter Einkäufe macht.

Wenn AKP-Gegner wie Yakici über die Gründe für die Stärke der Regierungspartei sprechen, fällt häufig das Wort "Anatolier". Es steht bei ihnen für ungebildetes Landvolk, das in die Großstadt kam und ihre konservativen Ansichten aus der Provinz mitbrachte. Unter Erdogan haben diese Emporkömmlinge die alten kemalistischen Führungszirkel verdrängt. Dabei hat er den Anatoliern so viel Selbstvertrauen gegeben hat, dass viele auf die Lebensansichten der Kemalisten pfeifen.

Beispiel: Die Gezi-Proteste des vergangenen Jahres. Zuerst habe er ja noch mit den Demonstranten sympathisiert, sagt Erdogan-Anhänger Altuntas. "Aber dann verschob sich die Sache, weg vom Umweltschutz und hin zur Politik." Als die Protestbewegung Erdogans Rücktritt forderte, verlor sie die Sympathien der Anatolier. Sie blieben dem Ministerpräsidenten treu.

Doch auch wenn die Gezi-Proteste die Unterstützung für Erdogan bisher ebenso wenig ins Wanken bringen konnten wie der Korruptionsskandal, zeigen sich doch Risse im Bollwerk der AKP-Gefolgschaft. Gezi hat viele junge Türken zum ersten Mal in ihrem Leben politisiert, auch die Twitter- und Youtube-Verbote irritieren viele. In einem Land, in dem das Durchschnittsalter bei 30 Jahren liegt, hat das irgendwann politische Folgen.

Selbst Hausmeister Altuntas will keine Erdogan-Herrschaft bis in alle Ewigkeit. "Wir sollten noch fünf Jahre Tayyip haben, bis dahin hat sich die Wirtschaft endgültig stabilisiert", sagt er. Auch werde die Erinnerung an den Druck der Kemalisten auf die fromm-konservativen Türken in den kommenden Jahren immer mehr verblassen, die Gegensätze würden weniger scharf sein als heute. "Dann können auch die anderen mal wieder ran." Bis dahin verlässt er sich lieber auf Erdogan.

(csi)
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