Präsidentschaftswahl Erdogan will eine andere Türkei

Istanbul · Seit 16 Uhr unserer Zeit sind die Wahllokale in der Türkei geschlossen. Der umstrittene Ministerpräsident Erdogan ist haushoher Favorit bei der Präsidentschaftswahl. Sollte er gewinnen, will er sich nicht mit bloßer Repräsentation zufriedengeben. Dem Land steht ein Systemwechsel bevor.

Recep Tayyip Erdogan will eine andere Türkei
Foto: Andreas Endermann

Wie kein anderer türkischer Politiker beherrscht Recep Tayyip Erdogan die Klaviatur der Wahlkampf-Rhetorik. Er wütet, schimpft und attackiert, doch er kann seine Zuhörer auch zu Tränen rühren. So wie am vergangenen Wochenende, als er vor mehreren Hunderttausend Anhängern in seiner Heimatstadt Istanbul sprach.

"Dies ist wahrscheinlich meine letzte Veranstaltung als Ministerpräsident in Istanbul", sagte der 60-Jährige, der am Sonntag türkischer Staatspräsident werden will. "Aber ich verabschiede mich nicht von Istanbul. Ich will in dieser Stadt begraben werden."

Wenn es nach Erdogan selbst und seinen Wählern geht, wird es bis zum Abschied noch eine Weile dauern. Sollte er die erste Direktwahl des Staatschefs gewinnen, könnte er im Falle einer Wiederwahl bis zum Jahr 2024 an der Spitze des Staates bleiben. Dann würde er das Land auch beim 100. Jahrestag der Gründung der türkischen Republik im Jahr 2023 repräsentieren - und seinen Anspruch auf einen Platz in den Geschichtsbüchern unterstreichen.

Heftige Prügelei im türkischen Parlament
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In seiner Jugend nannten sie ihn "Imam Beckenbauer"

Das hätte bei Erdogans Geburt niemand für möglich gehalten. Der fromme Muslim wuchs im Istanbuler Bezirk Kasimpasa auf, einer als Proletenviertel verrufenen Gegend. Nachdem er den Gedanken an eine Karriere als Profifußballer - er wurde in seiner Jugend "Imam Beckenbauer" genannt - auf Druck seines Vaters verworfen hatte, ging er in die Politik und stieg als islamistischer Nachwuchspolitiker auf.

Als Erdogan 1994 Bürgermeister von Istanbul wurde, hatten auch seine Gegner sein Talent erkannt. Sie brachten ihn 1998 wegen religiöser Volksverhetzung ins Gefängnis, doch aufhalten konnten sie ihn nicht. Im Jahr 2002 gewann die von ihm gegründete Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Parlamentswahl, im März 2003 wurde Erdogan Ministerpräsident.

2007 setzte Erdogan seinen Freund Abdullah Gül als Präsidenten gegen die Säkularisten durch, vier Jahre später entmachtete er die Militärs. Seine Popularität gründet sich auch auf seine wirtschaftlichen Erfolge - unter der AKP-Regierung hat sich die Wirtschaftsleistung der Türkei verdreifacht.

Trotz aller Siege hat sich bei Erdogan eines nicht verändert: Sich selbst und "seine" Leute sieht er als Opfer von Unterdrückung und Arroganz. Diese Weltsicht erstarrte im Laufe der Jahre zur Überzeugung, dass jede Gegnerschaft gegen die AKP-Regierung von dunklen Motiven getragen sein muss. Hinter den Protesten von Umweltschützern und unzufriedenen Bürgern um den Istanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr ortete er eine internationale Verschwörung gegen die Türkei.

Recep Tayyip Erdogan: Das ist der türkische Staatspräsident
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Das ist Recep Tayyip Erdogan

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Foto: AP

Als Präsident will Erdogan seinen Aufstieg vollenden und mit neuer Härte gegen tatsächliche oder angebliche Gegner vorgehen. Anders als Gül will er sich nicht mit repräsentativen Aufgaben zufriedengeben, sondern vom Präsidentenpalast das Land regieren, obwohl er bei einem Wahlerfolg als Ministerpräsident, Abgeordneter und AKP-Vorsitzender zurücktreten muss. Kritiker befürchten, dass die Türkei zu einem Staat wird, in dem alles von einem Mann abhängt. Erdogan wolle "eine Art Sultan werden", schrieb der Politologe Sahin Alpay in der Zeitung "Today's Zaman".

Erdogan will einen Systemwechsel

Klar ist, dass Erdogan einen Systemwechsel anstrebt: Die parlamentarische Demokratie soll durch ein Präsidialsystem ersetzt werden. Derzeit verfügt die AKP im Parlament aber nicht über genügend Stimmen, um die nötigen Verfassungsänderungen durchzusetzen. Das soll nach der Parlamentswahl im kommenden Jahr anders werden, hofft Erdogan. Möglicherweise wird er auch die Wahl vorziehen.

Bis die verfassungsrechtlichen Grundlagen geschaffen sind, will er als Präsident alle bestehenden Vollmacht nutzen. Dazu gehört etwa die Leitung von Kabinettssitzungen - Erdogans Nachfolger als Ministerpräsident wird wenig mehr als ein Erfüllungsgehilfe des Präsidenten sein. Nach Presseberichten soll dann eine Art Präsidialrat als "Über-Regierung" die wichtigsten Entscheidungen vorbereiten.

Selbst mit einem Sieg im ersten Wahlgang wird Erdogan vor schwierigen Aufgaben stehen. Die Gesellschaft ist - auch durch sein eigenes Auftreten - polarisiert wie nie zuvor. Turbulenzen könnte es auch in der Wirtschaft geben. Die Zeiten von Rekord-Wachstumsraten sind vorbei; die Türkei muss sich mit etwa drei Prozent Wachstum zufriedengeben. Das reicht nicht, um die Arbeitslosigkeit zu senken.

In der Außenpolitik wird ein Präsident Erdogan vor der Herausforderung stehen, die in den vergangenen Jahren immer weiter gewachsene Isolierung des Landes in der Region zu beenden: Bei der EU-Kandidatur bewegt sich so gut wie nichts, die Beziehungen zum Irak, zu Syrien, zu Israel und zu Ägypten stecken tief in der Krise. Die Wahl morgen wird für Erdogan zwar zu einem Wendepunkt - das Ende aller seiner Probleme wird sie nicht bringen.

(RP)
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