Wahlen in der Türkei Rückschlag für Erdogan

Ankara · Die Wähler in der Türkei strafen die islamisch-konservative AKP ab, die ihre absolute Mehrheit im Parlament verliert. Das ist auch eine Niederlage für Präsident Recep Tayyip Erdogan. Die pro-kurdische Partei HDP gilt hingegen als Wahlsieger.

Recep Tayyip Erdogan: Das ist der türkische Staatspräsident
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Das ist Recep Tayyip Erdogan

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Foto: AP

Das türkische Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan muss seine Pläne für die Einführung eines Präsidialsystems wohl vergessen. Bei der Parlamentswahl am Sonntag blieb die von Erdogan gegründete und seit 2002 ununterbrochen regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) zwar stärkste Partei. Sie musste gegenüber der Wahl von 2011, als sie fast 50 Prozent Stimmenanteil bekam, einen deutlichen Rückgang auf 40,7 Prozent hinnehmen.

Damit verfehlte die islamisch-konservative AKP ihr Ziel einer Zweidrittelmehrheit der Mandate in der nächsten Nationalversammlung. Für die von Erdogan angestrebte Verfassungsänderung hätte die Partei 367 der 550 Sitze erobern müssen. Die AKP verfehlte mit 258 Sitzen sogar die absolute Mehrheit im Parlament, die bei 276 Sitzen liegt. Als Ziel hatte die von Erdogan mitgegründete Partei 330 Sitze angegeben. Nun ist sie wahrscheinlich zur Bildung einer Koalition gezwungen. Als zweitstärkste Partei ging die Republikanische Volkspartei (CHP) mit rund 25 Prozent aus der Wahl hervor. Platz drei belegt die rechts-nationalistische MHP mit 16,5 Prozent.

Somit lautete die Botschaft des Abends: Die Türken wollen keine übermächtige Regierungspartei und auch keinen übermächtigen Präsidenten. Der 61-jährige Staatschef hatte im Wahlkampf die Spielregeln gebrochen, indem er sich trotz Neutralitätspflicht als Präsident für die AKP in die Schlacht warf. Beschwerden darüber bei der Obersten Wahlbehörde blieben folgenlos. Auch seine Haltung mit Eingriffen in die Justiz, Attacken auf die Presse und dem Fehlen jeglicher Selbstkritik wurde von den Wählern abgestraft.

Die vier wichtigsten Parteien und ihre Vertreter
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Die vier wichtigsten Parteien und ihre Vertreter

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Auf Unterstützung anderer Parteien konnten die AKP und Erdogan für ihre Präsidentschaftspläne ohnehin nicht hoffen. Die Oppositionsparteien lehnen ein Präsidialsystem ab. Es soll wesentliche Kompetenzen, die jetzt beim Parlament und beim Ministerpräsidenten liegen, auf das Staatsoberhaupt übertragen. Erdogan, der im vergangenen August für zunächst fünf Jahre zum Präsidenten gewählt wurde und schon jetzt als der "starke Mann" der Türkei gilt, bekäme dann noch mehr Macht. Die Wähler haben ihm diese Macht nun verweigert.

Zünglein an der Waage war die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). Sie lag nach Auszählung fast aller Stimmen mit 13 Prozent über der Zehn-Prozent-Marke, die in der Türkei eine Partei überspringen muss, um ins Parlament zu kommen. Die Partei, die bislang nur mit nominell unabhängigen Kandidaten im Parlament vertreten war, gewann damit 79 Sitze. Tausende Menschen im südtürkischen Diyarbakir feierten den Einzug ins türkische Parlament.

Türkei: HDP zieht ins Parlament ein - Anhänger feiern auf der Straße
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Anhänger der türkischen HDP feiern Einzug ins Parlament

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Die HDP hatte im Wahlkampf nicht nur um die Stimmen der rund 15 Millionen Kurden geworben, sondern sich auch als Sammelbecken linker und liberaler Regierungskritiker präsentiert. Wie keine andere Partei bildete die HDP mit ihren Kandidatenlisten die ethnische, religiöse und soziale Vielfalt der Türkei ab. 50 Prozent der HDP-Parlaments-Aspiranten waren Frauen. Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas warnte vor der Wahl, Präsident Erdogan plane die Einführung einer "konstitutionellen Diktatur". Er wertete das Ergebnis seiner Partei als "überwältigenden Sieg" und kritisierte zugleich, dass der Wahlkampf ungerecht verlaufen sei.

Beschwerden über Wahlmanipulationen

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Foto: Screenshot Twitter

Im Verlauf des Wahltages hatte es viele Beschwerden über mutmaßliche Wahlmanipulationen gegeben. So berichteten Anhänger der HDP, in einigen Wahllokalen seien Wahlbeobachter nicht zugelassen oder verprügelt worden. An mehreren anderen Orten fanden Wahlbeobachter der Opposition nach eigenen Angaben bereits ausgefüllte und versiegelte Stimmzettel für die AKP vor.

Überschattet wurde die Schlussphase des Wahlkampfs zudem von einem blutigen Terroranschlag bei einer Kundgebung der HDP im südostanatolischen Diyarbakir. Bei der Explosion von zwei Sprengsätzen wurden am Freitagabend drei Menschen getötet und mindestens 220 verletzt. 20 von ihnen schwebten in Lebensgefahr, berichtete die Nachrichtenagentur DHA.

Zum ersten Mal seit der Gründung der AKP im Jahr 2001 haben die Partei und ihr Gründer Erdogan eine Wahl verloren. Erdogan wird die Verantwortung dafür möglicherweise auf den nominellen Parteichef und Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu abschieben. Ob Davutoglu in seinen Ämtern bleiben kann, war am Wahlabend fraglich. Aber ein Bauernopfer würde nichts daran ändern, dass Erdogan den AKP-Wahlkampf an sich gerissen und die Wahl zur Volksabstimmung über sich selbst erklärt hatte. Dieser Misserfolg geht auf seine Kappe.

(RP)
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