Gefechte in Istanbul und Ankara Mehr als 60 Tote bei Putschversuch in der Türkei

Istanbul · Bei einem versuchten Umsturz durch das türkische Militär hat es in der Nacht viele Tote und Verletzte gegeben. Nach Angaben eines Regierungsvertreters kamen mindestens 60 Menschen ums Leben. Mehr als 750 Militärangehörige wurden festgenommen.

Putschversuch in der Türkei: Armee und Bevölkerung liefern sich Kämpfe
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Türkei: Armee und Bevölkerung liefern sich Kämpfe

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Dramatische Stunden in der Türkei: Nach einem Putschversuch durch das Militär haben sich in der Nacht zum Samstag die Ereignisse überschlagen. Nach Angaben der Regierung konnte der Umsturz abgewehrt werden. "Die Situation ist weitgehend unter Kontrolle", sagte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim am frühen Samstagmorgen. Nach Angaben aus dem Justizministerium wurden 754 Militärangehörige festgenommen. Auch im Morgengrauen waren in Istanbul noch Schüsse und Explosionen zu hören.

Unklar ist die Lage am Präsidentenpalast in Ankara. Wie die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf das Umfeld des Präsidenten berichten, haben dort offenbar Kampfjets Panzer der Putschisten bombardiert, die vor dem Palast aufgefahren waren.

Staatspräsident Erdogan sagte, bei den Putschisten handele es sich um eine Minderheit in den Streitkräften. "Wir haben mit der Operation begonnen, das Militär vollständig zu säubern. Und wir werden diese Operation weiterführen."

Beginn des Putschversuchs am Freitagabend

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Foto: Christoph Reichwein

Am späten Freitagabend hatten türkische Streitkräfte mit einem Putschversuch gegen Erdogan begonnen, wie das Militär nach Angaben der privaten Nachrichtenagentur DHA mitteilte. Damit sollten unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederhergestellt werden. Zunächst hieß es, die Streitkräfte hätten die Macht in der Türkei übernommen.

Aus dem Präsidialamt wurde dies bestritten. Erdogan sei nicht abgesetzt. "Das ist ein Angriff gegen die türkische Demokratie. Eine Gruppe innerhalb der Streitkräfte hat außerhalb der Kommandostruktur einen Versuch unternommen, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen." Erdogan rief in einem live übertragenen Telefonanruf beim Sender CNN Türk das Volk zu öffentlichen Versammlungen gegen die Putschisten auf.

Ministerpräsident Yildirim wies das Militär nach Angaben aus dem Präsidialamt an, von den Putschisten gekaperte Flugzeuge abzuschießen. Kampfflugzeuge mit einem entsprechenden Auftrag seien von der Luftwaffenbasis Eskisehir abgehoben, hieß es aus dem Präsidialamt.

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"Sie werden einen sehr hohen Preis zahlen"

Erdogan machte die Bewegung des im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch in der Türkei verantwortlich. "Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen", sagte Erdogan am Samstagmorgen am Atatürk-Flughafen in Istanbul.

Gülen ist ein einstiger Verbündeter Erdogans. Beide haben sich aber 2013 überworfen. Gülen - der in der Türkei inzwischen als Terrorist gilt - verurteilte den Putschversuch auf das Schärfste. Eine Regierung müsse durch freie und faire Wahlen an die Macht kommen, nicht durch Gewalt, hieß es in einer Mitteilung.

Erdogan sagte, er sei vor seinem Flug nach Istanbul in Marmaris an der türkischen Ägäis-Küste gewesen. Unmittelbar nach seiner Abreise von dort hätten die Putschisten "diesen Ort leider genauso bombardiert".

Während des Putschversuchs hatte es aus dem Präsidialamt geheißen, Erdogan sei in der Türkei und in Sicherheit. Erdogan ist ein wichtiger, aber umstrittener Partner der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise.

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Foto: AP

Soldaten in Redaktionsgebäude eingedrungen

Nach einer zeitweisen Besetzung durch Putschisten nahm der Sender CNN Türk die Berichterstattung wieder auf. Soldaten waren in der Nacht zu Samstag in das Redaktionsgebäude in Istanbul eingedrungen und hatten die Mitarbeiter dazu gezwungen, den Sender zu verlassen.

Die türkische Armee sieht sich als Wächterin der weltlichen Verfassung des Landes und hatte in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt gegen die Zivilregierung geputscht.

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, bei einem Luftangriff der Putschisten auf das Hauptquartier der Spezialkräfte der Polizei in Ankara seien 17 Polizisten getötet worden. Außerdem sei ein Hubschrauber der Putschisten in Ankara von F-16-Kampfflugzeugen abgeschossen worden.

Die Nachrichtenagentur DHA berichtete, in Istanbul seien sechs Zivilisten durch Schüsse getötet und fast hundert verletzt worden. Die Toten und Verletzten seien in ein Krankenhaus auf der asiatischen Seite der Stadt eingeliefert worden. NTV berichtete, 13 Soldaten seien bei dem Versuch festgenommen worden, ins Präsidialbüro in Ankara einzudringen.

"Nein zum Putsch"

Im Istanbuler Stadtteil Tophane waren Dutzende Gegner des Putsches auf die Straße gegangen. Ein dpa-Reporter berichtete am frühen Samstagmorgen, die Menge habe unter anderem "Gott ist groß" und "Nein zum Putsch" gerufen. Der US-Fernsehsender CNN International und die britische BBC zeigten Live-Bilder aus der Stadt: Menschen strömten in Massen auf die Straße und schwenkten türkische Fahnen.

In der türkischen Hauptstadt Ankara kam es einem Bericht des Senders CNN Türk zufolge zu Gefechten zwischen Polizei und Militär. Die Armee habe die Polizeidirektion beschossen, hieß es. Augenzeugen berichteten von Panzern in den Straßen der Hauptstadt.

Einem Medienbericht zufolge hatten Streitkräfte außerdem den Flugverkehr am Atatürk-Flughafen in Istanbul zwischenzeitlich gestoppt. Soldaten hätten den Tower am größten Flughafen des Landes am Freitagabend unter ihre Kontrolle gebracht, hatte die Nachrichtenagentur DHA gemeldet. Nach Erdogans Aufruf drangen Demonstranten auf das Flughafengelände ein. Das Militär sei daraufhin wieder abgezogen.

Unterstützung für Erdogan durch Barack Obama

US-Präsident Barack Obama rief dazu auf, die demokratisch gewählte Regierung des Landes zu unterstützen. Gewalt und Blutvergießen müssten vermieden werden, hieß es in einer Mitteilung des Weißen Hauses.

Ähnlich äußerte sich die Europäische Union. Die EU verlangte eine "schnelle Rückkehr" zur verfassungsmäßigen Ordnung in der Türkei, wie es am Rande des Asien-Europa-Gipfels in Ulan Bator in einer gemeinsamen Erklärung von EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini hieß. "Die Türkei ist ein wichtiger Partner der EU."

Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief zu Zurückhaltung und Respekt vor den demokratischen Institutionen und der türkischen Verfassung auf. Die Bundesregierung verlangte, die demokratische Ordnung in der Türkei zu respektieren, wie es in einer Erklärung von Regierungssprecher Steffen Seibert hieß. Das Auswärtige Amt riet allen Deutschen in der Hauptstadt Ankara und in Istanbul zu "äußerster Vorsicht".

Viele Flüge in die Türkei gestrichen

Mehrere Fluggesellschaften strichen ihre Türkei-Flüge. Die Lufthansa, Eurowings und Air Berlin sagten in der Nacht zu Samstag Flüge aus dem Land und in das Land hinein ab. "Wir werden bis morgen Mittag 12 Uhr alle Verbindungen von und in die Türkei streichen", sagte ein Lufthansa-Sprecher. "Danach werden wir sehen, wie sich die Lage weiterentwickelt."

In den türkischen Ferienzentren war die Lage nach Angaben der Tui ruhig. Der Reiseveranstalter Thomas Cook forderte die Urlauber auf, "vorsichtshalber bis auf weiteres in ihren Hotels zu bleiben".

(lukra/rls/dpa)
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