Flüchtlingskrise Putin sind alle Mittel recht

Warschau · In Moskau laufen die Fäden zusammen: Die künstlich erzeugte Flüchtlingskrise an der Grenze zu Belarus steht in einer ganzen Reihe russischer Aggressionen gegen die EU. Besonders im Fokus ist wie immer Deutschland.

Wladimir Putin. (Archiv)

Wladimir Putin. (Archiv)

Foto: AFP/MIKHAIL METZEL

Angela Merkel sagt es. Emmanuel Macron auch. Und Mateusz Morawiecki, der polnische Regierungschef, sowieso: „hybride Kriegsführung“. Diesen Vorwurf erheben europäische Politiker derzeit immer öfter. Sie richten ihn an den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, aber mehr noch an Kremlchef Wladimir Putin. Demnach ist es der russische Präsident, der das Flüchtlingsdrama an der Grenze zwischen Polen und Belarus steuert – mit dem Ziel, die EU zu destabilisieren. Genau das, eine Aggression mit irregulären, oft nicht-militärischen Mitteln, meint der Begriff „Hybridkrieg“. Dazu gehören etwa Cyberangriffe von Kriminellen, die der Staat gewähren lässt. Aber auch militärische Drohgebärden wie der jüngste Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine zählen dazu. Der Übergang zum echten Krieg ist fließend.

Ein Forscherteam der sicherheitspolitischen Denkfabrik SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik) in Berlin analysierte die Migrationskrise kürzlich so: „Putin lässt Lukaschenko gewähren und unterstützt dessen Ziel, zu Verhandlungen mit der EU über die Rücknahme der Sanktionen zu kommen. Außerdem sieht er in dem Erpressungsversuch eine weitere Chance, die Spaltung der EU zu vertiefen.“ Dass es um Destabilisierung geht, davon zeugen auch die Desinformationskampagnen, die der Kreml regelmäßig in westlichen EU-Staaten lanciert, insbesondere in Deutschland. Zuletzt schlug der Auswärtige Dienst der EU im März Alarm. Damals präsentierten die Brüsseler Diplomaten zahlreiche Belege für eine „systematische Offensive“ in Deutschland. Demnach haben russische Politiker und Medien seit 2015 in mehr als 700 Fällen Falschnachrichten verbreitet, deren zentrales Ziel es war, die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik zu beeinflussen.

Das Datum ist kein Zufall. Nach der Krim-Annexion 2014 tobte in Deutschland eine heftige Debatte über den Umgang mit Putin. Kritikern des Kreml stand eine starke Fraktion sogenannter Russland-Versteher gegenüber. Es gab also durchaus etwas zu beeinflussen. Zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte damals die sogenannte Petersburger Trollfabrik. Der Begriff wurde zum Synonym für staatlich gelenkte Versuche, Debatten im Internet zu manipulieren. Die bezahlten „Trolle“ fluteten Online-Foren nicht nur mit prorussischen Kommentaren, sondern heizten vor allem die Stimmung an, um die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen. Und was damals galt, gilt auch jetzt wieder: Deutschland, der größte und wirtschaftlich stärkste EU-Staat, steht besonders im Fokus. Davon zeugen nicht nur die „Germany, Germany“-Rufe der Menschen, die aus dem Nahen Osten nach Belarus gelockt wurden. Lukaschenko selbst sagt: „Es geht nicht um Polen. Es geht um Deutschland.“

Viel spricht dafür, dass die Strategen in Minsk und Moskau die Flüchtlingskrise von 2015 intensiv analysiert haben. So verwies Putin zuletzt auf das EU-Türkei-Abkommen von 2016. Damals sei viel Geld nach Ankara geflossen. Nun solle die EU für Lukaschenkos „Flüchtlingshilfe“ zahlen. Putin hat die Migration offenbar als das effektivste Mittel zur Destabilisierung der EU ausgemacht. Als Achillesferse einer Union, die seit 2015 tief über das Thema zerstritten ist. So ist es auch kaum ein Zufall, dass der Kreml seit Jahren enge Beziehungen zu rechtspopulistischen Parteien in der EU pflegt. Und das betrifft keineswegs nur die deutsche AfD. Die französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen erhielt 2014 einen Millionenkredit von einer russischen Bank mit Verbindungen in den Kreml. Im Wahlkampf 2017 empfing Putin die Französin persönlich. Die österreichische FPÖ und die italienische Lega von Matteo Salvini schlossen sogar Kooperationsabkommen mit der Kremlpartei Einiges Russland.

Aber auch Staats- und Regierungschefs im Osten der EU gehören zu Putins bevorzugten Partnern. Insbesondere der rechtsnationale Ungar Viktor Orbán pflegt gute Kontakte nach Moskau. Noch enger verbandelt mit Kremlkreisen ist Tschechiens linkspopulistischer Präsident Milos Zeman. Beide sind erklärte Gegner einer liberalen Migrationspolitik. Beide kauften auch in der Corona-Pandemie den russischen Impfstoff Sputnik V ein, ohne EU-Zulassung. Und Budapest plant in Kooperation mit dem russischen Nuklearkonzern Rosatom den Ausbau des Atomkraftwerks Paks. Ohnehin ist die Energiepolitik der zweite wichtige Hebel für Putin, um die Europäische Union zu spalten. Am deutlichsten zeigt sich das im jahrelangen Streit um die Ostseepipeline Nord Stream 2, die vom nordrussischen Wyborg nach Mecklenburg-Vorpommern führt – am Baltikum und an Polen vorbei.

Dabei ist es gar nicht entscheidend, ob Putin bereit ist, Gas als „Waffe“ einzusetzen und die EU mit Lieferstopps zu erpressen. Selbst die meisten Nord-Stream-Kritiker gestehen zu, dass Russland grundsätzlich ein zuverlässiger Lieferant ist. Ein viel wichtigerer Faktor ist aber der Dauerstreit in Europa, den das Nord-Stream-Projekt erzeugt hat. Vor allem in Polen, aber auch im Baltikum und der Ukraine sieht man in der Pipeline eine Neuauflage deutsch-russischer Sonderbeziehungen. Historische Ängste spielen dabei eine enorme Rolle. In der westeuropäischen Debatte werden diese „weichen Faktoren“ notorisch unterschätzt. Putin dagegen schürt diese Ängste gezielt. Zuletzt verharmloste er sogar den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und wies Polen eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg zu.

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