Proteste im Iran Nur ein Strohfeuer?

Teheran/Istanbul · Mehr als 500 Tote, 30.000 Festnahmen, vier Hinrichtungen: Der Druck des Mullah-Regimes zeigt offenbar Wirkung. Zuletzt gingen immer weniger Iranerinnen und Iraner auf die Straße, um für die Rechte der Frauen zu kämpfen.

 Nach dem Tod der 22 Jahre alten Mahsa Amini im September 2022 protestierten Tausende Menschen im Iran.

Nach dem Tod der 22 Jahre alten Mahsa Amini im September 2022 protestierten Tausende Menschen im Iran.

Foto: dpa/Uncredited

Die Straßenproteste im Iran flauen ab. Vier Monate nach Beginn der Protestwelle ziehen sich viele Demonstranten zurück; die Zahl der Kundgebungen ist seit dem Herbst stark gesunken. Regimevertreter erklären die Gefahr für die Islamische Republik bereits für gebannt. Der Druck des Regimes auf die Protestbewegung mit Polizeigewalt, Massenfestnahmen und Hinrichtungen zeige Wirkung, sagen Experten. Völlig unterdrücken lassen sich die Demonstrationen aber nicht.

Tausende Meldungen und Videos von Aktivisten im Iran zeichneten in den vergangenen Monaten das Bild eines Landes in Aufruhr. Auf den Straßen vieler Städte gab es Demos, Studenten an den Universitäten und Arbeiter der Ölindustrie streikten. Das Regime schlug zurück und setzte die Polizei und die Basidsch-Miliz, eine Schlägertruppe der Revolutionsgarde, gegen die Demonstrierenden ein.

Das harte Vorgehen hat offenbar Erfolg, wie Daten des „Critical Threats Project“ (CTP) der amerikanischen Denkfabrik AEI zeigen. Das CTP trägt Informationen aus dem Iran zu einem Lagebild zusammen, das täglich aktualisiert wird. Unmittelbar nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Gewahrsam der Religionspolizei am 16. September 2022 registrierte das CTP an manchen Tagen Demonstrationen in fast 50 Städten des Landes. Im Dezember wurden an den meisten Tagen aus weniger als zehn Städten Proteste gemeldet. Am Mittwoch vergangener Woche zählte das CTP lediglich eine kleine Protestkundgebung im ganzen Land, am Donnerstag waren es zwei.

Revolutionsführer Ali Khamenei feiert das als Sieg. Die Feinde des Iran hätten sich verkalkuliert, sagte der 83-Jährige. Die Islamische Republik habe sich als stärker erwiesen. In seinen mehr als 30 Jahren an der Spitze des Staates hatte Khamenei zuletzt in den Jahren 2009 und 2019 landesweite Aufstände gegen das Regime niederschlagen lassen.

Der Iran-Experte Arif Keskin beobachtet die Entwicklung im Iran von der benachbarten Türkei aus und veröffentlicht auf Twitter viele Videoaufnahmen von Protesten, die er von glaubwürdigen Quellen im Iran erhält. Auch Keskin hat festgestellt, dass die Zahl der Straßenproteste abnimmt. „Das Regime übt hohen Druck aus“, sagte Keskin unserer Redaktion.

Mehr als 500 Todesopfer, fast 30.000 Festnahmen, Dutzende Todesurteile und vier Hinrichtungen von Demonstranten seien noch nicht alles, sagte Keskin. Wer bei den Protesten mitmache, riskiere seine Existenz: „Studenten fliegen von der Uni, Arbeiter werden entlassen, den Familien wird Angst gemacht.“ Besonders die Hinrichtung junger Demonstranten war ein Schock für viele Iraner. „Jetzt lassen viele Eltern ihre Söhne und Töchter nicht mehr auf die Straße“, sagt Keskin. Internetsperren erschweren es den Regierungsgegnern, sich zu Protestkundgebungen zu verabreden.

Hinzu kommt laut Keskin, dass sich viele Demonstrierende vom Westen allein gelassen fühlen. „Sie hätten sich von Europa und den USA mehr erhofft.“ Anders als von der Protestbewegung erwartet, blieb auch die Unterstützung vieler Basarhändler, die beim Sturz des Schah-Regimes 1979 eine wichtige Rolle spielten, bisher aus. Auch die Händler stünden unter dem Druck des Regimes, sagt Keskin. Manche Beobachter glauben ohnehin nicht daran, dass die Proteste das Regime stürzen können. Es gebe keine tiefen Risse im Sicherheitsapparat und keine schlagkräftige Organisation der Protestbewegung, argumentierte Sajjad Safaei vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in einem Beitrag für das Magazin ­„Foreign Policy“. Außerdem existiere in der Opposition kein Konsens darüber, was an die Stelle der Islamischen Republik treten solle.

Steht die Protestbewegung also vor dem Aus? Für diese Schlussfolgerung sei es zu früh, sagt Iran-Experte Keskin. Seit September verlaufen die Proteste wellenförmig, meint er. Die CTP-Statistiken zeigen Spitzenwerte der Proteste Ende September, Anfang und Ende Oktober sowie im November, denen Phasen mit nachlassender Intensität folgten.

Derzeit sei nicht abzuschätzen, ob der Iran einen vorübergehenden Rückzug der Demonstranten oder eine dauerhafte Schwächung der Bewegung erlebe, sagt Keskin. Eins steht für ihn aber fest: „Die Islamische Republik steckt in einer existenziellen Krise. Es gibt viele Probleme zwischen der Regierung und der Gesellschaft, und das Regime ist nicht in der Lage, diese zu lösen.“ Die Proteste werden deshalb früher oder später wieder aufflammen, ist Keskin überzeugt.

Neue Aktionen in der südöstlichen Provinz Sistan und Belutschistan an der Grenze zu Pakistan am Freitag bestätigten diese Einschätzung. Demonstranten trotzten einer starken Präsenz der Einsatzkräfte, forderten das Ende des Mullah-Systems und riefen, Revolutionsführer Khamenei solle abdanken und das Land verlassen. Khamenei kann nicht sicher sein, dass die Islamische Republik die Protestbewegung bereits besiegt hat.

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