Brasilianer besorgt Wird Bolsonaro zum Wahlleugner nach Trumps Vorbild?

São Paulo · Brasiliens Wahlautomaten sind anfällig für Betrug - das sagt jedenfalls Präsident Bolsonaro, der sich im Oktober zur Wiederwahl stellt. Das klingt bekannt und löst im Land zunehmend Besorgnis aus. Zumal der Amtsinhaber in allen Umfragen zurückliegt.

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Das ist Jair Bolsonaro

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Foto: dpa/Leo Correa

Tausende Brasilianer strömten kürzlich in die juristische Fakultät der Universität von São Paulo, um die demokratischen Institutionen der Nation zu verteidigen. Das Ereignis erinnerte an ein ähnliches vor 45 Jahren, als Bürger am selben Ort zusammenkamen, um eine brutale Militärdiktatur anzuprangern.

Damals, 1977, wurde „ein Brief an Brasilianer“ verlesen, ein Manifest, in dem die sofortige Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit gefordert wurde. Diesmal, am vergangenen Donnerstag, hörte die Versammlung Deklarationen zur Verteidigung der Demokratie und des Wahlsystems im Land, das Präsident Jair Bolsonaro im Zuge seiner Kampagne für eine Wiederwahl im Oktober wiederholt attackiert hat.

Zwar wird Bolsonaro in den gegenwärtigen Manifesten nicht ausdrücklich beim Namen genannt. Aber sie unterstreichen die verbreitete Besorgnis im Land, dass der weit rechts stehende Staatschef in die Fußstapfen des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump treten und für ihn ungünstige Wahlergebnisse schlicht nicht akzeptieren könnte. Trump ist bis heute nicht von seiner falschen Behauptung abgerückt, dass ihm der Wahlsieg 2020 gestohlen worden sei, verbreiteter Betrug im Spiele war.

Bolsonaro liegt derzeit in allen Umfragen deutlich hinter dem früheren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva - was Befürchtungen nährt, dass auch der Noch-Präsident bereits vorbeugend den Grundstein für eine spätere Leugnung der Fakten legen könnte. „Wir befinden uns in der Gefahr eines Staatsstreiches, daher muss die Zivilgesellschaft aufstehen und dagegen kämpfen, um Demokratie zu gewährleisten“, sagte José Carlos Dias, ein Ex-Justizminister und Mitverfasser des Briefes von 1977 sowie der beiden am Donnerstag verlesenen Dokumente, der Nachrichtenagentur AP.

Zweifel an Bolsonaros Demokratie-Verständnis gibt es seit Beginn seiner Amtszeit - zum großen Teil deshalb, weil der ehemalige Fallschirmjäger-Hauptmann die 20-jährige Diktatur im Land, die 1985 endete, beharrlich glorifiziert hat. Im vergangenen Frühjahr kam er mit Ungarns autokratischem Regierungschef Viktor Orbán und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammen.

Seit mehr als einem Jahr sagt Bolsonaro immer wieder, dass Brasiliens elektronische Wahlmaschinen anfällig für Betrug seien - was sich wie ein Auszug aus dem Trumpschen Bühnenmanuskript anhört. Und auch Bolsonaro hat niemals auch nur einen Fitzel Beweis für die Stichhaltigkeit seiner Behauptung vorgelegt. Einmal drohte er damit, dass Wahlen ausgesetzt würden, wenn der Kongress nicht einem Gesetzentwurf zustimme, der die Einführung von ausgedruckten Stimmen-Belegen vorsah. Das Gesetz kam nicht durch.

Bolsonaro brachte auch seinen Wunsch nach einer stärkeren Rolle der Streitkräfte bei der Wahlbeaufsichtigung zum Ausdruck. Kürzlich besuchten Militärvertreter das Gebäude der leitenden Wahlbehörde und inspizierten Wahlmaschinen.

Im vergangenen Jahr trat Bolsonaro am 9. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, vor Zehntausenden Anhängern auf und sagte, dass nur Gott ihn von der Macht entfernen könne. Das war kurz nach der Eröffnung seines Wahlkampfes. Auch erklärte er, dass er nicht länger Urteile eines Richters am höchsten brasilianischen Gericht befolgen werde, was das Land in eine institutionelle Krise hätte stürzen können. Er ruderte später zurück, sagte, dass seine Äußerung im Eifer des Gefechts gefallen sei.

Bolsonaros Rhetorik komme bei seiner Basis gut an, aber sorge insgesamt politisch für Befremden, sagt Carlos Melo, ein Politikwissenschaftler an der Insper-Universität in São Paulo. So betreibt die Wahlbehörde ihrerseits eine Kampagne zur Verteidigung des Wahlsystems, ihre Topbeamten, die auch Richter am höchsten Gericht sind, haben wiederholt öffentliche Erklärungen in diesem Sinne abgegeben. Und hinter den Kulissen arbeiten sie daran, Verbündete im Kongress und privaten Sektor zu gewinnen.

Eine Art Wendepunkt gab es im Juli, nachdem Bolsonaro ausländische Botschafter in seine Residenz gerufen hatten, um sie über die angebliche Verwundbarkeit des elektronischen Wahlsystems zu informieren. Seitdem haben Führungspersonen im Kongress und der Generalstaatsanwalt, die alle als Bolsonaros Verbündete gelten, ausdrücklich ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Systems bekundet.

Am vergangenen Donnerstag in São Paulo drückten Autofahrer, die auf einer Zufahrtsstraße zur Universität im Verkehr stecken geblieben waren, solidarisch auf die Hupe, als Studenten vorbeimarschierten und pro-demokratische Slogans skandierten. Ein riesiger Ballon in Form einer Wahlmaschine am Haupteingang des Gebäudes trug die Aufschrift „Respektiere das Votum“. Drinnen drängten sich die Menschen, um den Demokratie-Deklarationen und weiteren Reden zuzuhören, andere verfolgten das Ereignis draußen auf großen Bildschirmen.

Die Erklärungen sind in zwei Briefen enthalten. Der erste war am 26. Juli ins Internet gestellt worden und ist bereits von fast einer Million Menschen unterzeichnet worden - Normalbürgern, prominenten Musikstars wie Caetano Veloso und Anitta, bekannten Bankern, Topmanagern und Präsidentschaftskandidaten, so Lula.

Der zweite Brief wurde am Freitag in Zeitungen veröffentlicht und hat die Unterstützung von Hunderten Unternehmern im Bankwesen, Ölgeschäft, Bau- und Transportgewerbe - Sektoren, die Politikwissenschaftler Melo zufolge traditionell abgeneigt sind, öffentlich politisch Position zu beziehen. Auch Fernsehsender haben in den vergangenen Tagen Clips mit Künstlern ausgestrahlt, die die Demokratie-Erklärung verlesen.

Arminio Fraga, ein prominenter Vermögensverwalter und einstiger Zentralbankchef während einer früheren Mitte-rechts-Regierung, zählte zu den Sprechern in der Universität. „Ich bin heute hier ... mit solch einer vielfältigen Gruppe, die manchmal auf entgegengesetzten Seiten gekämpft hat. Jetzt tun wir alles, was wir können, um zu bewahren, was uns allen heilig ist. Das ist unsere Demokratie“, sagte er.

Die Besorgnis hat offenbar auch Bolsonaros Partei erfasst: Sie hat sich von Äußerungen über eine potenziell kompromittierte Wahl distanziert. Bolsonaro betont, dass er die Verfassung respektiere - die einzige Deklaration, die zähle, um die demokratische Rechtsstaatlichkeit sicherzustellen, twitterte er nach der Veranstaltung in der Universität. Die dort verlesenen Erklärungen seien, was ihre rechtliche Bedeutung betreffe, „weniger wert als Toilettenpapier“.

(albu/dpa)
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