Der Westen argumentiert, dass die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung hat – und dass er ein Recht hat, die Ukraine zu unterstützen. Ist das denn durch das Völkerrecht gedeckt?
Osteuropa-Expertin Cindy Wittke „Putin steht unter Erfolgsdruck“
Düsseldorf · Wie gefährlich ist Wladimir Putin? Wie ernst müssen wir seine Atomschlag-Drohungen nehmen? Und wie stehen die Chancen der Ukraine, sich gegen Russland zu wehren? Fragen an Cindy Wittke, Völkerrechtsexpertin mit Osteuropa-Schwerpunkt.
Cindy Wittke Natürlich kann man so argumentieren. Aber die Frage ist: Wann ist die Schwelle überschritten, so dass wir aktiv beteiligt sind an diesem Konflikt in der Ukraine? Hier hat Präsident Putin seine sehr eigene Form der Interpretation des Völkerrechts präsentiert. Er hat ja bereits Andeutungen gemacht, dass er die Waffenlieferungen an die Ukraine zum Anlass nehmen könnte, den Konflikt weiter eskalieren zu lassen. Und dass sich seine Androhung eines atomaren Schlags nicht nur auf die Ukraine beziehen könnte, sondern auch auf die Nato-Staaten. Damit erzeugt er nicht nur weiteres Eskalationspotenzial sondern auch weiteres Angstpotenzial – sowohl bei der Führung als auch bei der Bevölkerung dieser Staaten.
Wie schätzen Sie das ein: Meint er seine Drohungen ernst?
Wittke Ich bin spätestens seit Putins Rede zum Kriegsausbruch am Morgen des 24. Februars der Überzeugung, dass wir ihn beim Wort nehmen und auch die Gefahr ernst nehmen sollten. In dieser Rede waren ja auch schon erste Andeutungen versteckt, dass er es durchaus in Betracht ziehen würde, das atomare Arsenal der russischen Armee für diesen Konflikt hinzuzuziehen. Und dieser Konflikt bezieht sich auf die Ukraine, aber auch auf den Westen. Diese Rede zum Kriegsbeginn war eine Abrechnung mit dem Westen.
Wittke Genau, mit diesem Wissen müssen wir uns aktuell auseinandersetzen. Und wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, dass weite Teile der Gesellschaft und auch der Politik unterschätzt haben, wie handlungsbereit Putin ist. Wir sollten uns auch vor Augen führen, dass der aktuelle Krieg in der Ukraine noch nicht den schnellen Erfolg gebracht hat, den er eventuell erwartet hat. Er ist also in eine Ecke gedrängt und steht unter dem Druck, Erfolg zu zeigen. Und da sind Drohungen ein gutes Instrument.
Dagegen wirkt das Maßnahmenpaket des Westens eher klein: Wir bremsen die russischen Wirtschaft aus und schicken den Rubel in den Keller.
Wittke Ich denke, der Westen nimmt die Situation schon sehr ernst. Die Sanktionen, die wir gerade erleben, haben ein bislang nicht gekanntes Ausmaß. Auf Russland wird also wirklich massiver Druck ausgeübt, seine politische Richtung zu ändern. Und die Koalition derjenigen, die sich diesen Sanktionen anschließen, geht ja über Europa hinaus! Die Bereitschaft ist transatlantisch und wird mit der Beteiligung von China und Australien auch global. Jüngst hat sich sogar Südkorea den Sanktionen angeschlossen. Auch die Rede von Bundeskanzler Scholz war eine Kehrtwende in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik, wie es sie seit der Gründung der Bundesrepublik nicht mehr gegeben hat.
Wir wissen jetzt schon, dass die Ukraine trotz aller Gegenwehr wahrscheinlich diesen Konflikt verlieren wird. Wie geht es dann weiter?
Wittke Ja, wir müssen anerkennen, dass die Ukraine der russischen Armee unterlegen ist. Dennoch leisten die Ukrainer auf eine beindruckende Art und Weise Gegenwehr. Wir wissen auch gar nicht, wie lange dieser gewaltsame Konflikt noch andauern wird. Genauso wenig ist es absehbar, wie sehr diese Auseinandersetzung die Zivilbevölkerung treffen und wie viel Blut fließen wird. Ich denke, Präsident Selenskyj arbeiten an verschiedenen Versionen eines Ausgangs dieses Krieges. Ich finde es sehr beeindruckend, parallel zu den Kriegshandlungen im eigenen Land ein Schnellverfahren für eine Aufnahme in die Europäische Union zu beantragen. Diese Frage stellt sich jetzt: Wäre das eine Option, um das vom Krieg zerstörte Land wieder aufzubauen?
Was würde es für Russland bedeuten, wenn sich die Ukraine länger und tapferer wehrt als angenommen? Wenn die Schlangen vor den Bankautomaten in Russland immer länger werden? Merkt man schon, dass sich das auf die Moral im Land auswirkt?
Wittke Ich glaube, es ist zu früh, dazu etwas zu sagen. Aber erste Eindrücke und auch erste Statistiken zeigen, dass die Hauptbetroffenen zunächst sehr reiche Menschen und der obere Mittelstand sind. Die ärmere Schicht trifft es auch deswegen nicht so hart, weil sie weniger Rücklagen hat.
Gerade die Ober- und Mittelschicht haben in der Vergangenheit von Putin besonders profitiert – und werden also wahrscheinlich lange loyal bleiben.
Wittke Derzeit ergibt sich insgesamt ein eher ein diffuses Bild. Einerseits ist das Vertrauen in Putin wieder relativ hoch. Andererseits könnten die ökonomischen Sanktionen auch dazu führen, dass die Menschen in Russland nicht dazu bereit sind, mit ihrem eigenen ökonomischen Auskommen in Haft genommen zu werden. Oder Einschränkungen in der Reisefreiheit in Kauf zu nehmen. Da gibt es also ein gewisses Potenzial, dass sich zivilgesellschaftliche Kräfte gegen Putin formieren – wir wissen nur nicht, ob diese Potenzial groß genug ist. Denn der Repressionsapparat, der sich in den letzten Jahren aufgebaut hat, ist sehr stark, und zivilgesellschaftliches Engagement in Russland mit einem sehr hohen Risiko verbunden.
Gibt es ein Szenario für ein Russland ohne Wladimir Putin?
Wittke Ich glaube, diese Frage beschäftigt die Wissenschaft sehr häufig – obwohl wir natürlich nicht dazu da sind, in die Kristallkugel zu schauen. Vermutlich wird die Antwort sehr stark davon abhängen, unter welchen Umständen Putin seine Macht verlieren wird. Er hat sich seine Präsidentschaft ja de facto bis 2036 gesichert, das sind noch sehr, sehr viele Jahre. Momentan wird spekuliert, dass es eventuell sogar zu einem Putsch in den inneren Zirkeln des Kremls komme könnte. Ein solches Szenario könnte auch bedeuten, dass dieser hyperstarke oder vermeintlich hyperstarke und autoritäre Staat sehr schnell zerfallen könnte. Es gibt in Russland auch immer noch Zentrifugalkräfte, die derzeit durch die autoritäre Staatsmacht gedeckelt sind, die aber durchaus wieder aufbrechen könnten. Wir müssen hier nur wirklich im Konjunktiv sprechen.
Wie geht es denn Ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine, mit denen Sie in Ihrem Netzwerk eng zusammenarbeiten?
Wittke Ich höre derzeit von sehr vielen, die mit ihren Familien noch in Kiew sind und auch dort bleiben wollen. Andere Freunde haben sich aufs Land zurückgezogen. Wiederum andere haben die Flucht angetreten. Kürzlich erst konnten wir eine ukrainische Völkerrechtlerin in Regensburg vom Zug abholen. Längerfristig ist die Forschung in der Ukraine natürlich extrem gefährdet. Wir werden höchstwahrscheinlich auch nicht mehr in das Land einreisen können, um dort Feldforschung zu betreiben oder uns wissenschaftlich auszutauschen. Das ist für alle Menschen, die mit und in der Ukraine geforscht haben, natürlich ein großes Desaster. Gleichzeitig gibt es eine große und sehr lobenswerte Welle der Solidarität mit ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Da werden momentan über Nacht Fördermöglichkeiten und Stipendienprogramme aus dem Boden gestampft.
Und die Kollegen in Russland?
Wittke Es gibt einerseits sehr kreml-treue Stimmen, insbesondere seit der Annexion der Krim im Jahr 2014. Was ich aber sehr bewundernswert finde: Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler positionieren sich in den sozialen Medien sehr offen gegen den Krieg. Und sie ziehen auch Konsequenzen, indem sie sich von Ehrenämtern oder aus einigen universitären Zirkeln zurückziehen. Das sind sehr mutige Entscheidungen, sowohl professionell als auch persönlich. Auch diese Menschen werden zum Teil sehr hart getroffen von aktuellen Entscheidungen der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft oder des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, Kooperationsprogramme mit Russland einzufrieren. Man darf daher nicht unterschätzen, dass man mit solchen Maßnahmen auch kreml-kritische Stimmen trifft.
Die Fragen stellte Ursula Weidenfeld. Protokolliert von Alexandra Eul.