Türkei Eine Frau trotzt Präsident Erdogan

Ankara · Im Zentrum der türkischen Hauptstadt Ankara protestiert die junge Dozentin Nuriye Gülmen seit Wochen gegen ihre Entlassung.

Recep Tayyip Erdogan: Das ist der türkische Staatspräsident
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Das ist Recep Tayyip Erdogan

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Die Heldin von Ankara ist groß gewachsen und schlank, hat Sommersprossen und lacht verschmitzt. Sie trägt das brünette Haar kurz und pflegt eine klare Sprache. Die 34-jährige Nuriye Gülmen strahlt die Ruhe derer aus, die sich entschieden haben, Grenzen zu überschreiten und die Folgen in Kauf zu nehmen. Doch ein bisschen nervös ist sie schon an diesem Morgen - wie jeden Tag seit jenem vor gut sechs Wochen, als sie ihren Protest begonnen hat, der ihr bislang 20 Festnahmen eingebracht und sie im Land berühmt gemacht hat. Sogar die Opposition im Parlament hat sie schon als Beispiel für Zivilcourage gelobt.

Es ist klirrend kalt, als Nuriye Gülmen in einem Café ihre Strickmütze aufsetzt, zusammen mit ihrem stämmigen Mitstreiter Semih Özakca ihre Plakate nimmt und die paar Schritte zum Menschenrechtsdenkmal in der Fußgängerzone im Herzen der türkischen Hauptstadt geht. Das Mahnmal zeigt eine Frau, die in der universellen Erklärung der Menschenrechte liest. Einen besseren Ort für ihren Protest hätte sie nicht wählen können, sagt Gülmen.

"Ich will meine Arbeit zurück!"

Mit geübten Griffen befestigen die Aktivisten ihre handgemalten Schilder an der Metallfigur. "Ich wurde entlassen. Ich will meine Arbeit zurück!", steht darauf geschrieben. Dann rufen sie, so laut es ihre Stimmen erlauben: "Wir sind Arbeitnehmer, wir haben Rechte! Die Regierung hat Zehntausende entlassen! Wir rufen alle dazu auf, sich mit uns zu solidarisieren."

Ein paar Passanten blicken auf, wenige halten an, viele hasten weiter und tun so, als ob es nichts zu sehen gäbe. Zwanzig Meter entfernt stehen sechs junge, bärtige Männer in uniformen blauen Anoraks und beobachten die Szene. Einer filmt. "Polizisten", sagt Gülmen. "Sie nehmen uns nicht mehr fest, aber sie sind immer dabei."

Die Nicht-Verhaftung ist ein kleiner Sieg für Gülmen und ihre Unterstützer. Die junge Frau ist eine von rund 20.000 Akademikern, die unter dem Ausnahmezustand nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli ihre Arbeit verloren haben, weil sie angeblich die Putschisten gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan unterstützen. "Ich habe nichts damit zu tun", sagt Gülmen. "Meine Suspendierung ist ein Witz." Einen Monat, nachdem sie jenen Bescheid der Seldschuken-Universität im zentralanatolischen Konya erhielt, ging sie nach Ankara, um für ihre Rückkehr in den Hörsaal zu kämpfen.

"Im ersten Monat meines Protestes haben sie mich jeden Tag nach zwei Minuten festgenommen. Haben mich einige Stunden festgehalten und dann wieder freigelassen", erzählt die 34-Jährige. "Aber ich sagte ihnen, dass ich nicht ruhen würde, bis ich meine Arbeit zurück habe. Irgendwann wurde es ihnen zu viel, und sie haben damit aufgehört." Fünf Stunden steht sie seither jeden Tag in der Fußgängerzone und schreit ihre Wut heraus. So ist Nuriye Gülmen in den sozialen Medien der Türkei zur Ikone des Widerstands geworden gegen ein kafkaeskes Herrschaftssystem, das Widerspruch nicht duldet und kleinste Abweichungen mit größtmöglicher Härte bestraft.

Staatliche "Säuberungen"

Hieß es ursprünglich, dass sich die staatlichen "Säuberungen" nur gegen die Anhänger des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen - den angeblichen Auftraggeber des Militärputsches - richten sollten, so wurde schnell klar, dass sie auch andere Regierungskritiker betrafen, die gar keine Verbindung zu den Gülenisten hatten: Linke, Liberale, Gewerkschafter, oppositionelle Kurden. Ihr eigener Fall zeige, dass fast jeder von den Behörden attackiert werden könne, ohne die Chance, sich juristisch zu wehren, erklärt Gülmen.

Mehr als 115.000 Menschen verloren bisher ihre Arbeit als Sicherheitskräfte, in den Gerichten, in Behörden, Schulen und Universitäten. Gerade Universitäten, traditionell ein Rückzugsraum linker Intellektueller, wurden massiv attackiert und büßten rund 15 Prozent ihres Personals ein. Auch Professoren zählen zu jenen 41.000 Menschen, die wegen des Putschversuchs in Untersuchungshaft sitzen. Und täglich kommen Dutzende hinzu.

Mehr als eine Million Menschen in der Türkei leiden inzwischen darunter, dass sie die Ernährer der Familie verloren haben; die Suspendierten werden oft gesellschaftlich geächtet, finden keine andere Arbeit. "Man nennt die Suspendierten Verräter, sie sind wie Ausgestoßene", sagt Gülmen. Man hört von entlassenen Lehrern, die auf dem Bau oder auf Feldern schuften, und immer wieder von Verzweifelten, die Selbstmord begehen.

"Gegen Unrecht kämpfen"

"Bitte unterstützen Sie mich und unterschreiben Sie meine Petition", ruft Gülmen immer wieder Passanten zu. Hin und wieder traut sich jemand, eine Unterschrift zu leisten. Es sind vor allem junge Menschen. "Man muss gegen das Unrecht kämpfen", sagt eine Studentin.

Nuriye Gülmen war das Risiko bewusst, als sie sich entschied, zu protestieren. Sie wusste, dass regierungskritische Demonstrationen seit dem Putschversuch von der Polizei meist mit großer Härte aufgelöst wurden. "Aber ich wollte ja keine Demonstration veranstalten. Ich will ja nur meinen Job zurück", sagt sie mit Schweijk'schem Charme. Dass sie sich nur auf ihre Suspendierung konzentriert, nutzt ihr im Kampf um ihre Würde gegen einen Mann, der ihr alles nehmen will.

Es war der jungen Frau nicht vorgezeichnet, an eiskalten Wintertagen im Zentrum Ankaras den mächtigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan herauszufordern. Sie stammt aus einer streng konservativen Arbeiterfamilie aus der Provinz Küthaya in der Nähe der Metropole Eskisehir, die zwischen Ankara und Istanbul liegt. "Meine Eltern sind sehr fromm, meine Mutter und meine Schwestern tragen Kopftuch, sie wählen Erdogan, nur ich bin aus der Art geschlagen", sagt sie lachend.

Nach dem Abitur arbeitete sie als Stewardess, studierte vergleichende Literaturwissenschaft in Ankara und begann 2010 eine Karriere an der Universität in Eskisehir. An der Uni kam sie mit linken Ideen in Berührung. Obwohl Nuriye Gülmen nie in eine Partei eintrat, entfernte sie ihr politischer Weg immer mehr von dem Milieu, in dem Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP ihre Anhänger findet. Sie wurde aktive Gewerkschafterin.

Angst um die Stelle

In Eskisehir lief sie wegen ihrer Teilnahme an linken Demonstrationen stets Gefahr, ihre Dozentenstelle zu verlieren. "Dauernd wurden Disziplinar-Berichte über mich geschrieben, unter anderem, weil ich singend einen Gang entlanglief." 2012 wurde sie sogar wegen angeblicher Terrorpropaganda für dreieinhalb Monate in ein Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt, durfte nach ihrem Freispruch zwar wieder arbeiten, doch als ihr Dozentenvertrag im Frühjahr 2015 auslief, weigerte sich die Hochschule, ihn zu verlängern. Nuriye Gülmen klagte und gewann ihren Prozess am 30. September. Inzwischen hatte man ihr eine neue Stelle in der erzkonservativen Stadt Konya zugewiesen.

Doch am ersten Arbeitstag sollte sie dort einen Bogen mit 42 Fragen ausfüllen, in dem es vor allem um den vereitelten Putsch und die Gülen-Bewegung ging, die jetzt als "Fethullahistische Terrororganisation" (FETÖ) bezeichnet wird. Gülmen erinnert sich an Fragen wie: "Haben Sie jemals mit der Bewegung sympathisiert? Haben Sie jemals Fethullah Gülen getroffen? Glauben Sie, dass FETÖ hinter dem Putschversuch vom 15. Juli steckt?" Sie war schockiert. "Keine einzige Frage beruhte auf einem konkreten Verdacht. Aber einige Fragen sollten mich zwingen, meine Gedanken zu offenbaren und andere Leute zu denunzieren. Das war total inakzeptabel, und das sagte ich denen auch." Als sie dann nach dem Wochenende zur Arbeit kam, erhielt sie den Suspendierungsbescheid.

Die junge Dozentin überlegte, was sie tun sollte. Sie beriet sich mit Freunden aus der Gewerkschaft und entschied sich dann, in Ankara zu protestieren, wo alle Regierungsstellen sitzen. Zwar sagten ihr viele Freunde Unterstützung zu. Doch als sie schließlich loslegte, stand sie fast ganz allein in der Fußgängerzone. "Alle haben Angst - vor dem Gefängnis, vor Misshandlungen, vor der Arbeitslosigkeit", sagt sie. Genau das sei es, was die Regierung mit dem Ausnahmezustand erreichen wolle: Einschüchterung, Hoffnungslosigkeit. Die Abschaffung aller Arbeitnehmerrechte.

Nur eine Handvoll Kollegen begleitete Gülmen am 9. November, als sie erstmals am Menschenrechtsdenkmal ihre Plakate in die Luft hielt. Kaum wollte sie eine Presseerklärung verlesen, umringten sie Bereitschaftspolizisten und nahmen sie fest. "Sie warfen mir vor, das Demonstrationsrecht verletzt zu haben und hielten mich fünf Stunden im Gewahrsam."

Am nächsten Tag kam sie zur gleichen Zeit an dieselbe Stelle. Wieder wurde sie nach zwei Minuten festgenommen. Diesmal warf man ihr Erregung öffentlichen Ärgernisses vor und brummte ihr eine Strafe von umgerechnet 30 Euro auf, an anderen Tagen für "Nichtbefolgen von Polizeibefehlen" das Doppelte. Weil sie sich weigerte, freiwillig mitzukommen, trugen sie stets fünf oder sechs Polizisten mit Gewalt weg. "Ich habe davon schmerzhafte Druckstellen davongetragen. Im Einsatzwagen wurde ich übel beschimpft, manchmal zerrten sie mich auf der Wache brutal auf den Boden", berichtet sie.

Doch inzwischen hat die Polizei wohl die Lust an dem Ritual verloren. Seit Anfang Dezember wird die Aktivistin nur noch sporadisch mitgenommen. Sie ist auch längst nicht mehr allein. Oft stehen Freunde mit ihr am Denkmal. Wildfremde drücken ihre Solidarität aus. Die Polizei hat sie allerdings gewarnt: Sollte sich eine größere Gruppe bilden, würden alle festgenommen.

Gülmens Unterstützer haben Angst

An diesem kalten Tag kommen immer wieder Freunde vorbei, die heißen Tee, warme Börek-Teigtaschen oder süßes Gebäck bringen. Die meisten gehören der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen an, die Gülmens Aktion zwar ideell, aber nicht praktisch unterstützt, aus rechtlichen und strategischen Gründen. Tatsächlich müssen Gülmens Unterstützer fürchten, selbst verfolgt zu werden. Eine Gymnasiastin, die ihr zur Seite stand, wurde nicht nur festgenommen, sondern auch von ihrer Schule verwiesen.

Trotzdem schloss sich der Grundschullehrer Semih Özakca, ein langjähriger Freund Gülmens, Ende November ihrem Protest an, nachdem er seine Arbeit im südostanatolischen Mardin verloren hatte. "Ich halte es für meine Pflicht, Widerstand zu leisten", sagt Özakca. Er wurde fünf Mal mit Gülmen festgenommen und sei dabei von der Polizei geschlagen worden, berichtet der 27-jährige Lehrer, auch ein aktiver Gewerkschafter. "Es ist ein Scherz, uns mit den Gülenisten in Verbindung zu bringen, denn wir haben sie immer bekämpft, als Erdogan und die AKP mit ihnen noch Händchen hielten." Nuriye Gülmen will weitermachen, bis ihr Protest Erfolg hat. Sie denkt darüber nach, einen Hungerstreik zu beginnen.

(RP)
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