Vergewaltigung löst Protest in Indien aus Nur die Spitze eines Eisbergs

Neu Delhi · Die indische Regierung hat eine Untersuchung der Gruppenvergewaltigung in der Hauptstadt Neu Delhi angeordnet. Das äußerst brutale Verbrechen hat Zehntausende von Menschen mobilisiert, die gegen die in Indien weit verbreitete Gewalt gegen Frauen protestieren.

Die Regierungskommission, die von einer pensionierten Richterin des Obersten Gerichtshofs geführt wird, soll mögliche Versäumnisse der Polizei und anderer staatlicher Stellen untersuchen und Maßnahmen für mehr Schutz und Sicherheit für Frauen vor allem in Neu Delhi vorschlagen.

Unterdessen hat sich der Zustand des Vergewaltigungsopfers weiter verschlechtert. Ärzte mussten sie nach einem Herzstillstand wiederbeleben.

Sechs Männer hatten die 23-jährige Medizinstudentin vor zehn Tagen um halb zehn Uhr abends in einem fahrenden Bus mitten in Delhi vergewaltigt, ihr mit einer Eisenstange schwerste innere Verletzungen zugefügt und sie dann auf die Straße geworfen. Die behandelnden Ärzte sagen, sie hätten noch nie einen so grauenhaften Fall gesehen. Die sechs Männer wurden inzwischen festgenommen.

Sie skandieren: "Wir wollen Gerechtigkeit"

In ganz Indien waren über mehrere Tage empörte Menschen auf die Straße gegangen. An der Spitze der Proteste stehen Studentinnen und Studenten, also die junge, aufstrebende Mittelschicht des Landes, die ein neues Indien einfordert. Sie skandierten: "Wir wollen Gerechtigkeit", "Hängt die Vergewaltiger" und "Genug ist genug".

Schauplatz der Proteste war unter anderem Delhis Regierungsviertel Raisina Hill. Beobachter fühlten sich an die Anfänge des Aufstandes auf dem Kairoer Tahrir-Platz erinnert. Ein großer Teil der Polizisten in Delhi ist zum Schutz von Politikern abgestellt. Deshalb folgert der Analyst Brahma Chellaney: "Die Anti-Vergewaltigungs-Proteste in Delhi zielen in Wahrheit auf eine politische Klasse, die selbst Bodyguard-Schutz genießt, sich aber wenig um die Sicherheit der Bürger schert."

Noch weiter geht der britische Journalist und Landeskenner John Elliot: Die Proteste hätten sich auch gegen Indiens "gewalttätige Polizei- und Sicherheitskräfte" gerichtet, "die ihren Job vorwiegend darin sehen, die Schwachen und Schutzlosen — Frauen eingeschlossen — zu schlagen und zu verletzen anstatt sie zu beschützen".

Autorin spricht von "nationalem Notstand"

Die Chefin der regierenden Kongresspartei, Sonia Gandhi, hat sich nach Medienberichten besorgt über das Verhalten der Polizei geäußert. Bürgerrechtler fordern seit Langem eine radikale Polizeireform. Zudem kam es zu einem Schlagabtausch zwischen Delhis Regierungschefin Sheila Dikshit und der Polizei.

Dikshit beschwerte sich, dass Polizisten die in dem Vergewaltigungsfall ermittelnde Richterin bedroht hätten, um sie zu zwingen, bei der Zeugenbefragung des Opfers nur der Polizei genehme Fragen zu stellen. Die unfassbare Gewalttat ist nur die Spitze eines Eisbergs.

Die Gewalt gegen Frauen in Indien hat ein solches Ausmaß, dass die prominente Autorin Shobhaa De von einem "nationalen Notstand" spricht. Eine Demonstrantin sagte: "Der Fall in Delhi ist ein Symbol für das, was Frauen jeden Tag in diesem Land erleiden." Vergewaltigungen werden als Kavaliersdelikt gewertet oder sogar gutgeheißen, um Frauen zu "disziplinieren".

Eltern bereuen, Tochter rausgelassen zu haben

Zu den Motiven der Täter in dem Bus war von Männern zu hören: "Sie wollten das Mädchen bestrafen, weil sie nach Einbruch der Dunkelheit aus war — um anderen Mädchen eine Lektion zu erteilen." Die Eltern der Medizinstudentin bereuen, dass sie ihre Tochter nicht zuhause behalten haben. "Gegen den Widerstand von Verwandten haben wir ihr erlaubt zu studieren. Wir wollten, dass sie die gleichen Chancen hat wie unsere Söhne", sagte der Vater.

Wie sehr die Politik Gewalt gegen Frauen verharmlost, zeigt sich daran, dass fast alle Parteien Politiker in ihren Reihen haben, gegen die wegen sexueller Delikte ermittelt wird. "Eine Gesellschaft, die wegschaut, wenn Politiker vergewaltigen, rauben, kidnappen und töten, lädt Ärger ein", meint Shobdaa De.

Die Wurzeln dieser Haltung liegen tief. In weiten Schichten der Gesellschaft Indiens ist der Mann alles und die Frau nichts. Jedes Jahr werden Hunderttausende Föten abgetrieben, nur weil sie weiblich sind. Bei Heiraten müssen die Eltern der Braut Mitgift an den Bräutigam zahlen, um die "Wertlosigkeit" des Mädchens aufzuwiegen.

(das)
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