"Nuit Debout" in Frankreich "Ich bin angeekelt von unseren Politikern"

Paris/Toulouse · Frankreich protestiert. Jeden Abend pilgern hunderte Menschen zum Place de la République in Paris. "Nuit debout" heißt die neue Bewegung, die sich im ganzen Land ausbreitet. Wir haben mit einem Unterstützer über seine Motivation gesprochen.

"Nuit debout" bedeutet "Nacht im Stehen" und zugleich "Die Nacht über wach". Nach den "Indignados", den "Empörten" in Spanien, und "Occupy Wall Street" in den USA ist jetzt in Frankreich eine soziale Protestbewegung entstanden, die mit der Besetzung öffentlicher Plätze ihre Wut über die herrschenden Verhältnisse zum Ausdruck bringt.

Schüler, Künstler, Ingenieure

Vor rund einer Woche hat alles angefangen. Nach einer Großdemonstration gegen die vom sozialistischen Staatschef François Hollande geplante Reform des Arbeitsrechts versammelten sich am 31. März zahlreiche Demonstranten am Place de la République, um die Proteste den Abend und die Nacht hindurch zu verlängern. Spontan war die Versammlung aber nicht. Ein Kollektiv hatte sich die Besetzung des Platzes ausgedacht, mit dabei François Ruffin, dessen Arbeitskampf-Dokumentarfilm "Merci Patron!" (Danke Chef!) inzwischen Kultcharakter hat.

Seitdem versammeln sich Schüler und Studenten, Künstler, Ingenieure und Lehrer, Angestellte und Rentner, Gewerkschafter und Anarchisten auf viele Plätzen des Landes. Redner greifen spontan zum Mikrofon und fordern mehr soziale Gerechtigkeit. Ihre Anliegen: Nein zu einer Liberalisierung des Arbeitsmarkts, zu einer verschärften Sicherheitspolitik, zu Parteiklüngel, sozialer Ausgrenzung, Polizeigewalt, Kapitalismus, Korruption, Eliten.

Junge Franzosen kämpfen für ein besseres Leben

Die Bewegung breitet sich rasend schnell aus: In rund 50 französischen Städten gehen Demonstranten abends und nachts auf Plätze — so auch in Toulouse. "Die Politiker hören uns nicht, aber wir wollen uns Gehör verschaffen", sagt Léonard Colin.

Der 23-Jährige studiert im Süden Frankreichs Fotografie. Bei der letzten Präsidentschaftswahl hat er für Nicolas Sarkozy gestimmt, weil François Hollande für ihn keine Option war. Seitdem verzichtet er darauf seine Kreuze zu setzen. "Warum auch?", fragt Léonard und gibt die Antwort gleich selbst. "Ich bin angeekelt von unseren Politikern. Sie können verschiedene Namen haben und zu verschiedenen Parteien gehören — am Ende ändert sich trotzdem nichts."

Politikverdrossenheit? Fehlanzeige. Léonard Colin brennt für politische Themen. Genau wie viele andere Franzosen auch hat er aber das Vertrauen in die Eliten verloren. "Mir geht es um die Menschen, weil ich einer von ihnen bin", sagt der Student. "Wir sollten dafür kämpfen ein gutes Leben zu haben und nicht als Sklaven großer Wirtschaftskonzerne ausgebeutet zu werden."

Einer für alle, alle für einen

Was alle eint ist der Überdruss mit der Politik und den herrschenden Verhältnissen. "Es kann nicht sein, dass ein paar Menschen alles bestimmen. Ich wünsche mir mehr direkte Demokratie, so wie in der Schweiz. Technisch ist das heutzutage gar kein Problem", sagt Léonard Colin. An der "Nuit debout" gefällt ihm, dass es keine Anführer gibt. "Das alles ist aus dem Nichts entstanden. Unsere Generation muss endlich einen Wandel einleiten — wir müssen Weg vom Kapitalismus und hin zum Humanismus."

Die Franzosen wollen die Politik im wahrsten Sinne wieder selbst in die Hand nehmen. Eine Hierarchie und strikte Organisation gibt es nicht, entschieden wird basisdemokratisch und in kleinen Komitees. Zentrales Druckmittel ist die Besetzung des öffentlichen Raums — wie auch bei der Besetzung des Madrider Platzes Puerta del Sol im Frühjahr 2011 und des nahe der Wall Street gelegenen Zuccotti-Parks in New York.

"Der Front National ist nicht so stark geworden, weil die Menschen ihn mögen", meint Léonard Colin. "Die Menschen haben sich ihm vor allem aus Protest angeschlossen." Der Fotograf hofft jetzt, dass die Protestwähler das Ufer wechseln und sich der friedlichen Bewegung anschließen anstatt die rechtsgesinnten Populisten zu unterstützen. "Mein Traum ist, dass wir zu einem politischen Sprachrohr werden, damit wir gemeinsam eine Politik für die Menschen machen können."

Am Freitagabend will Léonard Colin wieder auf die Straßen von Toulouse gehen und friedlich demonstrieren. In der Hoffung, dass sich bald etwas ändert.

Mit Agenturmaterial von AFP.

(gol)
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