Analyse Nordkoreas Kriegsmaschine

Pjöngjang · Der Diktator Kim Jong Un steigert fast täglich seine Kriegsdrohungen. Gleich mehrere Atomraketen sollen inzwischen abschussbereit sein. Die USA streiten über die Gefahr einer nuklearen Bedrohung durch Nordkorea. Doch die Streitkräfte des jungen Diktators hätten bei einem Angriff kaum ernsthafte Aussichten auf Erfolg. Eine Analyse.

Das ist Koreas Sonderwirtschaftszone Kaesong
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Ein Land rüstet sich zugrunde: Ein Viertel des gesamten nordkoreanischen Bruttoinlandsprodukts wird für die Rüstung ausgegeben, in den Mitgliedstaaten der Nato ist das in der Regel jeweils ein Zehntel. Die Militarisierung der nordkoreanischen Gesellschaft ist beispiellos: 1,2 Millionen aktive Soldaten stehen unter Waffen, weitere sieben Millionen Frauen und Männer sind als Reservisten in diversen Mobilmachungseinheiten eingeplant. "Mehr als 30 Prozent aller Nordkoreaner zwischen 15 und 60 Jahren gehören damit Reserveverbänden an", rechnet das unabhängige sicherheitspolitische Forschungsinstitut Globalsecurity.org vor. Sogar Schülerinnen und Schüler würden in paramilitärischen Einheiten zu Soldaten ausgebildet.

Ähnlich gigantisch wirkt das Arsenal der nach außen streng abgeschotteten kommunistischen Diktatur: 3500 Kampfpanzer, 2800 Schützenpanzer und 21 000 Geschütze wollen westliche Geheimdienste festgestellt haben, um nur einige Waffensysteme zu nennen. Besonders bedrohlich für Südkorea ist die geringe Vorwarnzeit im Fall eines Angriffs: Die Hauptstadt Seoul mit ihren 9,8 Millionen Einwohnern liegt nur rund 40 Kilometer von der Demarkationslinie, dem 38. Breitengrad, entfernt, der Nord- und Südkorea seit 1953 trennt. Die Diktatur hat rund 700 000 Mann, 2000 Kampfpanzer und 8000 Geschütze innerhalb einer Entfernung von nur 90 Kilometern zu dieser Grenze stationiert. Ein Kampfjet würde nur sieben bis zehn Minuten nach Seoul brauchen, eine Kurzstreckenrakete wäre noch deutlich schneller.

Wie eine Kopie der 70er

Trotzdem gehen die meisten amerikanischen und japanischen Experten davon aus, dass Nordkorea im Fall eines Angriffs letztlich chancenlos wäre. Ein Hauptgrund ist die Art der Bewaffnung: Nordkoreas Streitkräfte wirken wie eine Kopie sowjetischer und chinesischer Truppen in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sogar das Jagdflugzeug MiG-15 findet sich noch in Kim Jong Uns Armee. Der wendige russische Düsenjäger war im Koreakrieg von 1950 bis 1953 eine böse Überraschung für die amerikanische Luftwaffe.

Ebenso hoffnungslos veraltet sind Kampfpanzer der Typen T-34 und JS-2, die bereits im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden. Auch wenn Nordkorea als am stärksten militarisierte Nation der Welt allein wegen der gigantischen Größe seiner Armee hochbedrohlich wirkt, so sind seine Streitkräfte doch mutmaßlich die am schlechtesten ausgerüsteten und verpflegten. Über Nachtsichtgeräte für die Infanterie ist beispielsweise nichts bekannt, über eine nennenswerte Marine verfügen die Nordkoreaner gar nicht.

Tonnen chemischer Kampfstoffe

Auch Strategie und Taktik erinnern sehr an die Streitkräfte des Warschauer Paktes und den Kalten Krieg in Europa, der mit dem Zusammenbruch des Ostblocks in den 90er Jahren ein Ende fand: Die ersten Angriffe sollen mit Wellen der ältesten Jäger und Bomber erfolgen, damit die südkoreanische Flugabwehr ihre Raketen verschießt. Erst dann sollen modernere Kampfflugzeuge folgen. Bei den Bodentruppen wird — mit Panzermassen und dicht gedrängt vorstürmenden Infanteristen — ebenfalls auf dieses menschenverachtende Prinzip Abnutzung gesetzt. Dazu kommt eine überdimensionierte Artillerie, die mit einem dichten Hagel von Granaten und Raketen ihr Feuer eröffnen soll.

Auch was chemische und biologische Waffen betrifft, ist die nordkoreanische Armee nach dem Muster der damaligen Sowjetarmee aufgebaut und operiert nach deren Einsatzgrundsätzen. So wird davon ausgegangen, dass im Fall eines Angriffs mit Nervengas bestückte "Scud"-Raketen vor allem die Militärflugplätze im Süden ausschalten sollen. Insgesamt verfügt das kommunistische Regime über Depots mit Tausenden Tonnen chemischer Kampfstoffe, die mit Kanonen und Raketen ins Ziel geschossen werden können.

Kim Jong Uns Lebensversicherung ist die Atombombe

Ob für Kim Jong Un jedoch ein schneller militärischer Überraschungserfolg wie für seinen Großvater Kim Il Sung im ersten Jahr des Koreakriegs möglich wäre (fast der ganze Süden war besetzt, bevor die Vereinten Nationen militärisch eingriffen), ist schon deshalb zweifelhaft, weil die sehr modern ausgerüsteten südkoreanischen Streitkräfte heute eng mit US-Truppen verzahnt sind, die im Rahmen eines Beistandsvertrages seit 1954 im Land stehen. Zwar könnte speziell die Raketenartillerie des Nordens in den südkoreanischen Städten verheerende Schäden anrichten. Spätestens dann, wenn amerikanische Verstärkungen eintreffen, werden der nordkoreanischen Armee aber keine Chancen mehr eingeräumt.

Das weiß mutmaßlich auch Kim Jong Un. Deshalb basieren seine Drohungen vorrangig auf dem Einsatz von Nuklearwaffen — sein Land sieht sich seit 2012 offiziell als Atommacht. Am Freitag wurde publik, dass das US-Pentagon in einem geheimen Bericht die Atomwaffen sogar für einsatzfähig hält. Allem Anschein nach wurde die eigentlich geheime Information bewusst an Medien durchgestochen, das Verteidigungsministerium in Washington bemühte sich umgehend, die Einschätzung zu relativieren. Ganz offensichtlich ist sich die US-Administration in der Beurteilung der Lage nicht einig.

Enge Zusammenarbeit mit Teheran

Auch japanische Experten gehen davon aus, dass Nordkorea nukleare Sprengköpfe besitzt, machen aber eine entscheidende Einschränkung: Nordkorea könne die Atomwaffen bislang nicht einsetzen, weil sie noch zu groß und zu schwer sind, um sie mit einer Rakete treffsicher zu verschießen.

Die Warnungen vor dem nuklearen Potential des Regimes muss man jedoch ernst nehmen. Die Nordkoreaner forschen bereits seit den 60er Jahren, damals mit russischer Hilfe, auf nuklearem Gebiet und starteten in den 80er Jahren ein konkretes Atomwaffenprogramm. Geheimdienstquellen gehen von bis zu acht einsatzfähigen Plutoniumbomben aus, eine davon sei bei einem Test in Pakistan 1998 gezündet worden. Sorge bereitet den Beobachtern die offenbar enge Zusammenarbeit mit dem Mullah-Regime in Teheran, das ebenfalls nach der Bombe strebt.

Am Donnerstag meldete Südkorea, der Norden bereite sich auf den Abschuss gleich mehrerer Kurz- und Mittelstreckenraketen vor, darunter die bislang noch nicht getestete "Musudan", die eine Reichweite von bis zu 4000 Kilometern haben soll. Wohin die Flugkörper zielen und ob sie scharfe Sprengköpfe tragen, sei unklar. Die Spannungen in Asien verschärfen sich damit erneut.

(RP/pst/csi)
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