Olesja Schukowska twitterte nach Halsschuss "Ich sterbe" Maidan-Sanitäterin: "Ich dachte, das war's"

Kiew · Olesja Schukowska wurde während der Proteste auf dem Maidan in Kiew von einer Kugel getroffen und sah sich dem Tode geweiht. Doch sie überlebte. Monate später hofft sie, dass der Aufstand gegen die gestürzte Regierung von Präsident Janukowitsch nicht umsonst war.

Olesja Schukowska zurück auf dem Maidan in Kiew
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Olesja Schukowska zurück auf dem Maidan in Kiew

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"Ich sterbe", twitterte die junge Frau, nachdem sie an einem kalten Morgen im Februar von der Kugel eines Heckenschützen getroffen worden war. Mit ihrem Tweet wurde Olesja Schukowska plötzlich zur Berühmtheit. Die 21-Jährige überlebte den Schuss in den Hals auf dem Maidan-Platz in Kiew.

Sie gab Interviews und traf Regierungsvertreter. In Frankreich schilderte sie, was ihr widerfahren war und erzählte von den mehr als 100 Demonstranten, die während der Proteste ihr Leben verloren. Heute, drei Monate später, hofft sie, dass der Aufstand gegen die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch nicht umsonst war.

"So wenig ist erreicht worden", sagt Schukowska. Die 21-Jährige aus einer ukrainischen Kleinstadt war Ende 2013, als die Proteste ausgebrochen waren, nach Kiew gezogen. Dort arbeitete sie über Monate als freiwillige Sanitäterin in dem großen Protestcamp, das im Herzen der Hauptstadt entstanden war. "Das Blut, das hier vergossen wurde - ich will wirklich nicht, dass es verschwendet ist. Weil die Leute anfangen, zu vergessen", fügt sie hinzu. Die junge Frau versucht zu beschreiben, wie sie ihr Land heute sieht. "Ich bin Realistin", erklärt sie.

Nach den Protesten schließt der Maidan seine Wunden
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Nach den Protesten schließt der Maidan seine Wunden

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Schukowska ärgert sich über Anti-Regierungsproteste

Dieser Tage ist es in der Ukraine nicht leicht, ein Optimist zu sein. Die Wirtschaft liegt am Boden, Militär und Polizei erscheinen oft komplett machtlos. Die Schwarzmeerhalbinsel Krim wurde von Russland annektiert. Tausende Menschen im russischsprachigen Osten stimmten bei einem Referendum am Wochenende dafür, sich von Kiew abzuspalten.
Prorussische Bewaffnete haben die Kontrolle über Regierungsgebäude in einigen östlichen Städten übernommen und sich Auseinandersetzungen mit ukrainischen Sicherheitskräften geliefert.

Schukowska ist vor allem über Ukrainer verärgert, die gegen die Regierung in Kiew protestieren. "Ihnen sollte wohl ihre Staatsbürgerschaft entzogen werden", sagt sie. "Wenn sie in Russland leben wollen, dürfen sie ihre Taschen packen und nach Russland ziehen."

Julia Timoschenko bei ihrer ersten Rede nach der Freilassung
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Noch vor einigen Monaten schienen ihr die Dinge so klar, so hoffnungsvoll. Ende Februar, als sich Schukowska in einem Krankenhaus in Kiew erholte, floh der bisherige Präsident Janukowitsch nach Russland. Die neue Übergangsregierung versprach, die lähmende Korruption im Land auszurotten.

Die Demonstranten — die meisten von ihnen aus den ukrainischsprachigen Regionen des Landes — waren sich sicher, dass das Land sich in ihrem Sinn wandelt. In Umfragen vor den Referenden der prorussischen Separatisten und Gewaltausbrüchen im Osten des Landes gaben die meisten Ukrainer an, jetzt mehr Hoffnung zu verspüren als unter der Regierung Janukowitschs.

"Wir haben viel gewonnen", sagt Anton Lubjanyzkji, ein Freund Schukowskas aus ihrer Heimatstadt. Auch er wurde während der Proteste angeschossen. "Es war eine Revolution gegen Apathie", meint er.

2014: Die Gesichter des Protests in Kiew
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Umstehende halfen ihr zu einer Erste-Hilfe-Station

Schukowska arbeitete in einem kleinen Krankenhaus im Westen der Ukraine, als die Proteste begannen. Animiert von dem, was sie im Fernsehen sah, zog es sie auf den Maidan-Platz in Kiew. Die Demonstranten hatten dort Straßen übernommen und protestierten ohne Unterbrechung gegen die Entscheidung Janukowitschs, die Beziehungen zur Europäischen Union einzufrieren, sowie seinen Umgang mit Menschenrechten und sein Bemühen um finanzielle Unterstützung aus Russland. Als freiwillige Sanitäterin brachte Schukowska Menschen, die bei Zusammenstößen mit der Polizei verletzt wurden, Wundverbände, oder versorgte diejenigen, die an einer Erkältung litten, mit Aspirin.

Am Morgen des 20. Februar sortierte sie medizinische Güter in einer ruhigen Gegend am Rande des Platzes, als ihr in den Hals geschossen wurde. Zuerst wusste sie nicht, was passiert war. "Erst als ich nach unten blickte und das Blut sah, wurde mir bewusst, dass ich angeschossen worden war", erzählt sie. Umstehende Menschen halfen ihr, zu einer Erste-Hilfe-Station und dann zu einem Rettungswagen zu gelangen.

Auf dem Weg griff sie nach ihrem Telefon — so wie es für sie zur Gewohnheit geworden war — und twitterte die Worte "Ich sterbe". Heute lächelt Schukowska über die Dramatik ihrer Twitter-Botschaft. Zwar hat sie immer noch einige Schmerzen, doch große, langanhaltende Schäden hat sie durch den Schuss nicht erlitten. "Ich dachte, das war's", sagt sie. "Ich dachte, das war das Ende."

Der Gestank brennender Gummis ist weitgehend weg

Heute pendelt Schukowska zwischen dem Haus ihrer Eltern im Westen des Landes und Kiew, um ihren Freund zu sehen, den sie während der Proteste kennenlernte. Sie hofft in Kiew zu bleiben und einen Abschluss als Krankenschwester zu schaffen. Doch sie wirkt etwas verzweifelt darüber, dass alles so schnell vorbeigegangen ist.

Der Maidan, oder Unabhängigkeitsplatz, wirkt inzwischen wie ein halbaufgegebenes Camp nach einer Karnevalsfeier. Viele Demonstranten haben die Gegend verlassen, einige ihrer Lager sind abgebaut worden. Doch Dutzende lumpig aussehende grüne Zelte und eine Handvoll Barrikaden sind geblieben. Dies hat jedoch mehr mit Nostalgie denn mit der Notwendigkeit zu tun, Angreifer fernzuhalten.

In Kiew ist der Frühling eingetroffen und der Gestank brennenden Gummis, der den ganzen Winter über den Demonstranten hing, ist weitgehend weg. Die Geschäfte haben seit Langem wieder geöffnet. Schukowska steht inmitten der noch übrig gebliebenen Demonstranten und besteht darauf, dass ihre Bemühungen nicht umsonst gewesen seien.
Doch es klingt so, als ob sie sich selbst zu überzeugen versucht. "Wir haben viel gelitten, und ich glaube, es war nicht nur eine leere Geste", sagt sie. "Alles wird gut."

(ap)
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