Entwicklungsminister reist durch Marokko Niebels Herbsttour in den arabischen Frühling

Marrakesch (RPO). Blutvergießen in Ägypten, Tausende Tote in Libyen, Massaker in Syrien – gelingt einem nordafrikanischen Land der arabische Frühling auch ohne Blutvergießen? Eine Antwort erwartet Entwicklungsminister Dirk Niebel von seiner Drei-Tage-Tour durch Marokko.

 Entwicklungsminister Dirk Niebel traf in Marrakesch auf einen Schumacher. Im Hintergrund läuft die Deutsche Bundesliga im Fernsehen.

Entwicklungsminister Dirk Niebel traf in Marrakesch auf einen Schumacher. Im Hintergrund läuft die Deutsche Bundesliga im Fernsehen.

Foto: dapd, dapd

Marrakesch (RPO). Blutvergießen in Ägypten, Tausende Tote in Libyen, Massaker in Syrien — gelingt einem nordafrikanischen Land der arabische Frühling auch ohne Blutvergießen? Eine Antwort erwartet Entwicklungsminister Dirk Niebel von seiner Drei-Tage-Tour durch Marokko.

Vier Flugstunden und 3000 Kilometer von Berlin entfernt taucht der Bundesminister tief in die arabische Welt ein. Der abendliche Gang durch die Altstadt von Marrakesch führt Dirk Niebel an Schlangenbeschwörern vorbei mitten in den verwinkelten Basar mit seinen Ständen von Gewürzen und Geschnitztem. Und was sieht Niebel an seinem ersten Ziel als erstes? Die Live-Übertragung vom Sonntagabendspiel der Bundesliga. Vorne werkelt Schuster Kamman Abdelaziz (57) an neuem Schuhwerk, im Hintergrund läuft Hamburg gegen Kaiserslautern.

Auf dem Farbfernseher steht es 1:1. In den 80.000 Geschäften im Großraum von Marrakesch, die mit Mikrokrediten unter anderem der deutschen KfW auf die Beine gekommen sind, steht es 97:3. Nur drei von hundert Kreditzen platzen. Alle anderen werden pünktlich und vollständig zurückgezahlt. Und viele Existenzgründer nehmen anschließend neue auf, um ihr Geschäft auszuweiten.

Hunderttausend Männer und Frauen haben dadurch eine berufliche Existenz gefunden, zusammen mit ihren Familien kann eine halbe Million Menschen davon leben.

Erstaunliche Geschäftsideen - viele Arbeitslose

Erstaunliche Geschäftsideen sind darunter. Wie die schräg gegenüber von Belkhali Moghamed (62), der alles aus Altreifen herstellt. Bilder, Spiegel, Kannen - sie scheinen umrahmt zu sein von symmetrischen Ornamenten. Tatsächlich sind es die Profile von Reifen, die er veredelt — und damit Käufer findet. Ein paar Läden weiter erzählt Makoudi Jaoudi seinen Trick, ans Geld der Touristen zu kommen.

Er hat sich mit seinem jüngsten Mikrokredit einen Fernseher und eine Klimaanlage Parfümerie zugelegt. Und so lädt er gerade an heißen, stickigen Tagen vorbeischlendernde Touristen ein, bei ihm ein erholsames Päuschen zu machen. "Sie müssen auch nichts kaufen, ruhen sie sich einfach aus und schauen Sie ein bisschen Fernsehen", lautet seine Ansprache. Und am Ende ziehen sie dann doch oft "mit voller Tüte" weiter...

Die drei Geschäftsideen stehen für viele. Aber sie sind nicht genug. Die Arbeitslosenquote liegt bei zehn Prozent. Die der jungen Leute deutlich höher. Und ganz besonders groß ist sie in den Metropolen. Jeder dritte junge Mensch ist ohne Arbeit. Und jedes Jahr wächst das Volk um 400.000 Köpfe. Die meisten ohne Perspektive. Seit Jahren braut sich hier Sprengstoff zusammen. In der Nachbarschaft, in Tunesien, hat ihn ein arbeitsloser Akademiker zur letzten Jahreswende zur Explosion gebracht.

Mohamed Bouazizi verbrannte sich am 17. Dezember selbst, weil er angesichts der Schikanen des korrupten Regimes gegen seinen Versuch, sich wenigstens als Gemüsehändler durchzuschlagen, keinen Ausweg mehr sah. Sein Tod Anfang Januar ließ die hoffnungslose Jugend überall in Nordafrika auf die Straße strömen.

Protest der "diplomierten Arbeitslosen"

Auch in Marokko formierte sich im Februar der Protest. Den Kern bildeten die "diplomierten Arbeitslosen" — Akademiker mit Abschluss, aber ohne Chance auf Arbeit. Doch König Mohammed VI. hielt den Aufruhr nicht hin oder ließ ihn gar niederschießen. Er kündigte sogleich umfassende Reformen an und verkürzte die Zeitspannen bis zum nächsten Schritt immer wieder neu. Er wolle eine Demokratie wie beim nördlichen Nachbarn, dem Königreich Spanien, verkündete er. Dabei hielt er den Prozess stets so fest in der Hand, dass man in Marokko auch von einem "gelenkten" Frühling sprechen könnte: Für das Kennenlernen des zur Abstimmung gestellten Verfassungsentwurfes ließ er seinem Volk gerade einmal zwei Wochen.

Wichtige Oppositionsgruppen waren zwar in die Formulierung eingebunden, doch eine breite Verfassungsdiskussion kam nicht auf. Weil man sich vorher auch erst in Wahllisten eintragen musste, stimmten am Ende nur 9,4 Millionen von 32 Millionen Marokkanern darüber ab. Und die waren angeblich zu fast 99 Prozent dafür.

Erstaunlicherweise lagen die exakten Ergebnisse auch aus unwegsamen Gebieten des Landes schon nach kürzester Zeit vor. Das hat Geschmäckle. Aber es stinkt dem Volk nicht. Denn es geht weiter: In knapp vier Wochen wird das erste Parlament gewählt. Und das wird erstmals einen Regierungschef bestimmen, den der König nur noch ernennt und nicht mehr erwählt.

Deutschland will Marokko ermutigen, auf seinem eigenen Weg zur Demokratie zu bleiben. Dafür ist Niebel nach Marokko gereist. Und um deutschen Touristen ein Signal zu geben: Seht her, Marrakesch ist vor allem pittoresk und faszinierend, und nicht gefährlich. Auch Niebel verweilt am Markt vor den großen Planen, hinter denen sich die Ruinen des Café Argana befinden. Ende April töteten Terroristen hier 17 Menschen und verletzten 20 weitere. Der Prozess läuft noch, aber Bezugspunkte zur Al Qaida im Maghreb sind möglich.

Dabei ist Marokko auf Tourismus-Einnahmen dringend angewiesen. Weiteres Potenzial steckt in der Wind- und der Sonnenenergie. Sie sind wichtige Programmpunkte auf Niebels Reise

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