Nahostkonflikt „Angriffe auf Pager ist das ‚9/11’ der Hisbollah“
Beirut · Nach den Explosionen von Pagern und Walkie-Talkies der Hisbollah gilt es als unwahrscheinlich, dass die Gruppe dauerhaft geschwächt ist. Experten sind sich allerdings einig, dass die Angriffsserie psychische Folgen hat.
Die ferngesteuerten Explosionen von Pagern und Walkie-Talkies von Mitgliedern der Hisbollah, während diese in Lebensmittelgeschäften, auf der Straße oder bei einem Trauerzug unterwegs waren, haben für großes Aufsehen gesorgt. Analysten rechnen damit, dass es der militant-islamistischen Gruppe gelingen wird, sich militärisch neu zu formieren und auch neue Möglichkeiten der Kommunikation für sich zu finden. Doch dürften die Vorfälle spürbare psychische Folgen für die Kämpfer haben, heißt es.
Bei den Explosionen wurden mindestens 37 Menschen getötet, darunter zwei Kinder. Mehr als 3000 Menschen sollen verletzt worden sein. Selbst Libanesen ohne Verbindung zur Hisbollah zeigten sich betroffen. Für die Detonationen wurde Israel verantwortlich gemacht. Das Land hat eine Verwicklung weder bestätigt noch bestritten.
Die Explosionen der Geräte wirkten sich neben Kämpfern auch auf Mitarbeitende in zivilen Einrichtungen der Hisbollah aus, unter anderem im Gesundheits- und Mediensektor. Damit machten sich die Angriffe auch auf Bereiche jenseits des Schlachtfelds bemerkbar.
Die Angriffe zeigten auch die Schwäche des simplen Kommunikationssystems der Hisbollah, auf das die Gruppe sich gestützt hatte, um nicht vom israelischen Geheimdienst über Handys ausspioniert zu werden.
Der pensionierte libanesische Militärgeneral Elias Hanna stufte die Angriffe als das „Pearl Harbor oder 9/11 der Hisbollah“ ein. Mohanad Hage Ali von der Denkfabrik Carnegie Middle East Center sagte, wegen der Folgen der Explosionen für Menschen in verschiedenen Einrichtungen der Hisbollah habe die Angriffsserie „wie ein Schwert ins Eingeweide der Organisation“ gewirkt. „Es wird Zeit brauchen, um zu heilen und diejenigen zu ersetzen, die angegriffen wurden“, sagte er.
Allerdings glauben Hage Ali und andere Analysten, dass die Hisbollah durch den Verlust von Kämpfern nicht schwer beeinträchtigt sei. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah sagt, seine Gruppe verfüge über mehr als 100.000 Kämpfer. Wenn dem so ist, hätte die Explosionsserie nur einen kleinen Prozentteil der Hisbollah-Männer außer Gefecht gesetzt.
Ein der Hisbollah nahestehender Analyst aus dem Libanon, Kassim Kassir, sagte, die Explosionen hätten mehrheitlich zivile Mitarbeitende der Gruppe erfasst. Deshalb seien die Folgen für die kriegerischen Aktivitäten der Hisbollah eingeschränkt.
Seit dem 8. Oktober kommt es fast täglich zu einem Feuergefecht zwischen der Hisbollah und dem israelischen Militär. Die Gefechte brachen einen Tag nach dem Terrorangriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel aus, der den Krieg im Gazastreifen auslöste. Seither sind Hunderte bei Angriffen im Libanon und Dutzende in Israel getötet worden. Zehntausende Menschen im Grenzgebiet mussten fliehen. Die Hisbollah sagt, ihre Angriffe erfolgten in Solidarität mit ihrem Verbündeten Hamas. Sie werde damit aufhören, wenn im Gazastreifen eine Waffenruhe eingeführt werde.
Hisbollah-Chef Nasrallah räumt „schweren Schlag“ ein
Nasrallah räumte am Donnerstag ein, dass die Angriffe auf Pager und Walkie-Talkies ein „schwerer Schlag“ gewesen seien. Er kündigte aber an, dass die Hisbollah jetzt noch stärker werde.
Am Mittwoch und Donnerstag nach den Angriffen feuerte die Hisbollah weiter Raketen über die Grenze nach Israel ab. Zwei israelische Soldaten wurden getötet.
Größere Folgen als für die Kämpfer-Anzahl der Hisbollah dürfte die Explosionsserie für das Kommunikationsnetzwerk der Gruppe gehabt haben. „Die Telekommunikation ist das Herzstück militärischer Einsätze“, sagte der pensionierte libanesische General Nadschi Malaeb. Eine Verzögerung bei der Kommunikation könne eine Katastrophe bedeuten.
Nasrallah hatte seine Kämpfer im Februar gewarnt, sie sollten keine Mobiltelefone bei sich tragen, weil diese dazu verwendet werden könnten, sie zu verfolgen und ihre Kommunikation zu überwachen. Schon lange davor hatte sich die Hisbollah auf Pager und ihr eigenes Festnetzsystem gestützt, um eine Überwachung zu umgehen.
Die am Dienstag explodierten Pager waren ein neues Modell, das die Hisbollah erst seit Kurzem benutzt haben soll. Offenbar wurden kleinere Sprengsätze bei der Herstellung oder im Zuge der Auslieferung den Geräten hinzugefügt. Anschließend wurden sie offenbar ferngezündet.
Der pensionierte General Hanna äußerte die Vermutung, dass sich die Hisbollah künftig auf technisch noch weniger fortschrittliche Lösungen stützen könnte - dazu gehörten persönlich überstellte Briefe. „Vielleicht muss man zur menschlichen Kommunikation, dem Briefträger, zurückkehren“, sagte Hanna.
Eine Forscherin bei der Denkfabrik Institute for National Security Studies mit Sitz in Tel Aviv, Orna Misrahi, sagte, der Verlust der Fähigkeit, über Pager zu kommunizieren, sei ein „dramatischer Schlag“. Doch die Hisbollah verfüge über andere Methoden der Kommunikation und werde ihr Kommunikationsnetzwerk neu aufbauen. Der größere Schaden, den die Hisbollah erlitten habe, sei ein psychischer, sagte Misrahi, eine frühere Geheimdienstanalystin des israelischen Militärs und des Büros des Ministerpräsidenten. „Es ist die Demütigung einer solchen Operation; es zeigt, wie sehr die Organisation dem israelischen Geheimdienst ausgesetzt ist“, sagte sie.
Eine Dozentin für Politik und internationale Beziehungen an der Cardiff University in Wales, die zur Hisbollah forscht, Amal Saad, sagte, die Angriffsserie habe vor allem durch die „Demoralisierung und die Angst“, die verbreitet worden seien, Auswirkungen gehabt. „Die gesamte Gesellschaft der Hisbollah wird äußerst besorgt sein, weil alles jetzt dafür anfällig ist, gehackt und manipuliert zu werden.“ Die Hisbollah werde „jetzt vieles überdenken, nicht nur die Pager“.