Nach dem Terroranschlag Entsetzen und Trauer in Istanbul

Istanbul · Nach dem terroristischen Doppelanschlag in Istanbul, der am Wochenende mindestens 38 Tote gefordert hat, kündigte Staatspräsident Erdogan Vergeltung an. Derweil bringt die Regierung eine Verfassungsänderung auf den Weg.

Istanbul: Bombenanschläge auf Polizisten vor Besiktas-Stadion
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Istanbul: Bombenanschläge auf Polizisten vor Stadion

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Foto: rtr, PK/

In der Türkei wehen die Fahnen seit Sonntag auf halbmast. Die Nation befindet sich im Schockzustand, nachdem Selbstmordattentäter am Samstagabend im Istanbuler Stadtteil Besiktas mindestens 38 Menschen mit sich in den Tod rissen. Inzwischen haben sich die Freiheitsfalken Kurdistans (Tak) — eine Splittergruppe der kurdischen Terrororganisation PKK — zu dem Anschlag bekannt. Erst wenige Stunden vor dem Attentat hatte die türkische Regierungspartei AKP in Ankara Pläne zu einer Verfassungsänderung vorgelegt, die dem Staatschef Recep Tayyip Erdogan noch mehr Macht geben soll — auch im Kampf gegen den Terror.

Schauplatz des Doppelanschlags war das neu erbaute Fußballstadion des türkischen Erstligisten Besiktas am Bosporus. Das Spiel Besiktas gegen Bursaspor war bereits 90 Minuten zuvor zu Ende gegangen und die Zuschauer auf dem Heimweg, als gegen 22.30 Uhr eine Autobombe neben einem am Stadion geparkten Mannschaftsbus der Polizei explodierte. Nur 45 Sekunden später zündete ein Selbstmordattentäter im benachbarten Macka-Park inmitten einer großen Gruppe von Polizisten einen Sprengsatz. Die Beamten hatten das Spiel gesichert und sich zur Abfahrt gesammelt. Die blutige Bilanz der Anschläge: 38 Tote, darunter 30 Polizisten. Von 138 Verletzten schwebten am Sonntag noch 14 in Lebensgefahr, sagte Gesundheitsminister Recep Akdag.

"Direktes Ziel des Angriffs war die türkische Polizei", sagte der türkische Vizepremier Numan Kurtulmus. Der Doppelanschlag trägt deutlich die Handschrift der kurdischen Terroristen. Die PKK nimmt bei ihren Anschlägen häufig Polizisten ins Visier. "Die Türkei kämpft nicht nur gegen den Terror, sie führt Krieg gegen den Terror", sagte Kurtulmus.

Mit den Anschlägen von Istanbul droht eine weitere Eskalation im Kurdenkonflikt. Er ist wieder aufgeflammt, seit im Sommer 2015 eine mehr als zwei Jahre zuvor geschlossene Waffenruhe scheiterte. Nicht nur in der Kurdenregion im Südosten des Landes kommt es seither fast täglich zu Gefechten zwischen Regierungstruppen und kurdischen Rebellen. Die Terrororganisation PKK hat ihren Kampf mit blutigen Anschlägen auch in den Westen des Landes getragen.

Im Februar dieses Jahres starben 28 Menschen bei der Explosion einer Autobombe in Ankara. Knapp vier Wochen später fordert ein Bombenanschlag auf einen Polizeikonvoi im Regierungsviertel der türkischen Hauptstadt 34 Tote. Auch zu diesen beiden Attentaten bekannten sich die Freiheitsfalken. Im Juni tötete die TAK mit einem Bombenanschlag im historischen Zentrum Istanbuls elf Menschen, darunter sieben Polizisten.

Ministerpräsident Binali Yildirim ordnete am Sonntag Staatstrauer an. Die Regierung erließ eine Nachrichtensperre — eine in der Türkei übliche Reaktion nach Terroranschlägen. Das bedeutet: Medien dürfen bis auf weiteres nur amtliche Bekanntmachungen zu dem Fall publizieren. Staatschef Recep Tayyip Erdogan sagte eine geplante Reise nach Kasachstan ab.

In einer Erklärung des Präsidialamtes erklärte Erdogan: "Wann immer die Türkei einen positiven Schritt in Richtung Zukunft macht, antworten die Terrororganisationen mit Blut, Brutalität und Chaos." Erdogan spielte mit dem "positiven Schritt" offenbar auf die geplante Verfassungsänderung an, die seine Befugnisse als Staatschef erheblich erweitern soll.

Kurz vor den Anschlägen hatte die Regierungspartei AKP in Ankara den Entwurf einer Grundgesetzänderung präsentiert, mit der in der Türkei ein Präsidialsystem eingeführt werden soll. Die wichtigste Neuerung: Das Amt des Premierministers wird abgeschafft. Seine Kompetenzen werden dem Staatspräsidenten übertragen. Er kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und damit praktisch am Parlament vorbei regieren.

Der Präsident kann nicht nur seine Minister nach Gutdünken berufen und entlassen, er beruft auch die Rektoren der Universitäten und die Hälfte der Richter der obersten Gerichte. Während das Staatsoberhaupt nach der bisherigen Verfassung parteipolitisch neutral sein muss, könnte Erdogan nach der Grundgesetzänderung wieder den Vorsitz der AKP übernehmen, den er nach seiner Wahl zum Präsidenten im August 2014 niederlegen musste.

Die Verfassungsänderung soll im Januar vom Parlament verabschiedet werden. Die erforderliche Mehrheit gilt als gesichert, da die ultra-nationalistische Partei MHP Erdogan ihre Unterstützung zugesagt hat. Im März oder April sollen dann die Wähler die Einführung des Präsidialsystems in einer Volksabstimmung billigen. Umfragen zeigen: Rund 60 Prozent der Bevölkerung stehen hinter Erdogan. Die größte Oppositionspartei CHP fürchtet indes, die Türkei werde unter einem weiter gestärkten Erdogan in eine Diktatur abgleiten.

(RP)
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