US-Militärausbilder in der Ukraine „Die Russen werden mit jedem Tag schwächer“

Interview | Düsseldorf/Genf · Lange vor dem russischen Überfall waren Nato-Experten in der Ukraine, um das Militär zu beraten und Truppen auszubilden. Einer von ihnen war Michael Repass, Ex-Generalmajor der US-Streitkräfte. Im Interview berichtet er, warum die Ukraine Russlands Vormarsch bislang zurückschlagen konnte.

 Zerstörtes russisches Militärfahrzeug (in Kharkiv, am 16. März).

Zerstörtes russisches Militärfahrzeug (in Kharkiv, am 16. März).

Foto: AP/Andrew Marienko

Herr Generalmajor, wann waren Sie das letzte Mal beim ukrainischen Militär?

Michael Repass Ende Januar 2022 hatte ich mein letztes Engagement, 2021 war ich Berater des Generalstabs in Kiew. Im vergangenen Jahr, im September, besuchte ich auch das Trainingsgelände westlich von Lwiw, das die Russen jetzt beschossen haben.

Die ukrainische Armee leistet den Russen heftigen Widerstand. Wie lange halten die Ukrainer noch durch?

Repass Ich bin nicht überrascht über die Leistung der ukrainischen Streitkräfte. Sie gewinnen jeden Tag relativ an Stärke gegenüber den Russen. Sie gingen zwar in den Krieg mit einer unterlegenen Armee, aber das Kräfteverhältnis gleicht sich immer mehr an. Sie kämpfen von einer moralisch überlegenen Position aus, da sie ihr Heimatland gegen eine brutale Aggression verteidigen. Die ukrainische Armee und das ukrainische Volk werden den Kampf fortsetzen, solange sie die Mittel haben. Ich sehe nicht, dass sie kurzfristig kapitulieren, besonders jetzt, da Russlands Offensive ins Stocken geraten ist. Die Dynamik könnte sich zugunsten der Ukraine bewegen.

Russlands Präsident Putin schickte seine Truppen in einen Angriffskrieg. Wie steht es um seine Einheiten in der vierten Woche des Konflikts?

 Michael Repass war Kommandeur des US-Spezialkräfte-Kommandos Europa. Der Generalmajor hat nach seiner Pensionierung vom US-Militär im Auftrag Washingtons die Streitkräfte der Ukraine beraten und trainiert. Er ist Absolvent der Militärakademie West Point und befehligte Spezialeinheiten in Kampfeinsätzen, mehrmals im Irak und in Afghanistan.

Michael Repass war Kommandeur des US-Spezialkräfte-Kommandos Europa. Der Generalmajor hat nach seiner Pensionierung vom US-Militär im Auftrag Washingtons die Streitkräfte der Ukraine beraten und trainiert. Er ist Absolvent der Militärakademie West Point und befehligte Spezialeinheiten in Kampfeinsätzen, mehrmals im Irak und in Afghanistan.

Foto: Able/Karen Maugans

Repass Die Russen werden jeden Tag schwächer. Vermutlich sind mehrere Tausend ihrer Soldaten bereits gefallen, darunter einige Generale. Die Ukrainer haben allein bis zum 17. März 475 russische Panzer zerstört, Putin hatte zu Beginn in der Ukraine 1200 Panzer im Einsatz. Dazu haben die Ukrainer russische Helikopter in der Luft und am Boden vernichtet, sowie anderes Militärmaterial in großer Zahl unschädlich gemacht. Für die Russen ist es schwer, die Verluste zu ersetzen, weil sie enorme Schwierigkeiten bei der Logistik und beim Nachschub haben. Das alles zehrt an der Moral der Truppe.

Hat die Ukraine also eine Chance, militärisch zu bestehen?

Repass Ja. Aber es ist unmöglich, den Ausgang des Konflikts genau vorauszusagen. Ich schätze die Verluste auf ukrainischer Seite auf ein Drittel der russischen Verluste.

Sie haben die ukrainischen Streitkräfte beraten und mit ausgebildet. Was ist das Erfolgsgeheimnis der Verteidiger?

Repass Die Militärs der Ukraine haben harte Arbeit geleistet und sie zeichnen sich durch enorme Willensstärke aus. Sie wussten, dass Putins Soldaten kommen würden. Sie waren also nicht überrumpelt. Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt seit seinem Amtsantritt 2019 auf tiefe Reformen der Streitkräfte, er tauschte die Führung aus. Jetzt sind jüngere Generäle am Ruder, die seit 2014 gegen die Russen und die prorussischen Rebellen im Donbass gekämpft hatten. Selenskyj ernannte auch einen neuen Verteidigungsminister, Oleksyj Resnikow, ein hervorragender Mann. Hinzu kommen moderne Ausbildung und Ausrüstung. Die aktuelle Armee der Ukraine gleicht den Streitkräften der Nato-Länder und hebt sich deutlich von der alten ukrainischen Truppe ab, die 2014 die Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim durch die Russen nicht verhindern konnte.

Berichten Sie über die Ausbildung. Wie lief das ab?

Repass Nehmen wir die Spezialkräfte. Das sind Soldaten, die oft an vorderster Front kämpfen, offensiv und verdeckt. Sie bekämpfen wichtige Ziele, befreien Geiseln oder schalten Zielpersonen aus, wie beispielsweise Terrorchef Osama bin Laden durch US-Spezialkräfte 2011. Im vergangenen Jahr besuchte ich eine Einheit von Spezialkräften der Ukraine. Die Einstellung, die taktische Schulung, das militärisch korrekte Verhalten, die eiserne Entschlossenheit waren beeindruckend. Ich spürte die notwendige Dynamik. Diese ukrainischen Männer hätten auch in US-Spezialkommandos dienen können. Sie erhielten ihren Schliff von Ausbildern aus Nato-Ländern. Insgesamt haben Nato-Instrukteure Zehntausende ukrainische Soldaten ausgebildet. Ziel war es immer, die ukrainischen Truppen so zu trainieren, dass sie zusammen mit Nato-Einheiten operieren können.

Wie wichtig sind die Waffenlieferungen aus Deutschland und den anderen Nato-Staaten für die Verteidigung der Ukraine?

Repass Enorm wichtig. Die Frontkommandeure und ihre Einheiten brauchen dringend Panzer- und Flugabwehrsysteme. Mit der deutschen Panzerfaust 3, der Anti-Panzerrakete Javelin sowie den Flugabwehrraketen Stinger oder SA-7 können die Ukrainer den Russen empfindliche Verluste zufügen. Natürlich gestaltet sich der Waffentransport sehr gefährlich, weil die Russen die Lieferungen ins Visier nehmen.

Russland behauptet, es habe seine neuesten Kinschal-Hyperschallraketen zum ersten Mal in der Ukraine eingesetzt, um ein Waffenlager im Westen des Landes zu zerstören. Könnten diese Raketen ein Game Changer zu Putins Gunsten sein?

Repass Ich glaube nicht, dass die Waffe die Fähigkeit hat, den Verlauf des Konflikts zu ändern, weil sie einfach nicht genug davon haben.

Wieso kommen Putins Truppen so langsam voran?

Repass Der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und letztlich Putin selbst haben ihrer sogenannten speziellen Militäroperation bestimmte Annahmen zugrunde gelegt, die vor Beginn der Feindseligkeiten nicht verifiziert waren. Zwei Beispiele. Erstens gingen die Russen davon aus, dass die Ukrainer keinen ernstzunehmenden Widerstand leisten. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Zweitens vertrauten die Russen darauf, dass sie mit einer großen motorisierten Streitmacht mühelos in der Ukraine operieren können. Eine böse Überraschung für die Kreml-Truppen war dann das matschige Gelände im Norden der Ukraine. Kommt ein Fahrzeug dort von der Straße ab, bleibt es leicht stecken. Erinnern wir uns an den 40 Meilen langen russischen Militärkonvoi auf dem Weg nach Kiew. Es gab Pannen, Schäden und Spritmangel bei Fahrzeugen. Die intakten Vehikel kamen aber auch nicht mehr vorwärts, sie konnten nicht von der Straße abweichen. Wegen des Matsches.

Haben also die russischen Nachrichtendienste versagt?

Repass Ja, die russischen Nachrichtendienste waren nicht fähig, entscheidende Informationen zu sammeln. Es kann aber auch sein, dass die Dienste bewusst ein rosigeres Bild für Putin gezeichnet haben. Putin bekommt gefilterte Informationen, die ihm genehm sind.

Welche strategischen Fehler haben die Russen gemacht?

Repass Sie haben es zunächst versäumt, die Kommandozentrale und die Kommunikationskanäle der ukrainischen Armee auszuschalten. Das Zusammenspiel von Luft- und Bodenoffensive knirscht bei den Russen. Die Militärkampagne insgesamt ist zu komplex und zu verstreut. Sie haben nicht genug Kampfkraft und Logistik für die Operation eingesetzt. Die US-Streitkräfte und ihre Koalitionspartner hingegen starteten im Golfkrieg 1991 gegen den Irak mit einer gewaltigen Luftoffensive, um die militärische Infrastruktur auszuschalten. Erst danach begann der Einmarsch in das irakisch besetzte Kuwait.

Welche militärische Strategie verfolgen die Russen?

Repass Die Russen haben eine enorm destruktive Kampagne entfesselt. Sie zerstören Städte, Infrastruktur, Energie- und Wasserversorgung, Abwassersysteme. Sie töten oder vertreiben die Zivilisten. Wenn die Städte unbewohnbar sind, bekämpfen die Russen das feindliche Militär. Wir sehen das jetzt in Mariupol. Die Russen wollen, dass kein ukrainischer Widerstand im östlichen Teil der Ukraine bleibt. So machten sie es schon im Syrien-Krieg in Aleppo und Homs sowie im Tschetschenien-Krieg in Grosny.

Wie viel schlimmer kommt es noch?

Repass Ich befürchte, es wird noch schlimmer. Wenn die Russen ihre Vernichtungsorgie fortsetzen, könnten nach Schätzungen des Hilfswerks UNHCR 18 Millionen Menschen in die Flucht gezwungen werden. Oder mehr. Das wäre eine beispiellose humanitäre Katastrophe.

Wird Putin zum Äußersten gehen und Atomwaffen im Krieg gegen die Ukraine einsetzen?

Repass Ich sehe keine Umstände, die ihn dazu bewegen würden, mit Atomwaffen zu operieren.

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