Geschlechterrollen im Krieg Die Rückkehr des Heldentums

Analyse | Düsseldorf · Männer kämpfen, Frauen und Kinder fliehen – der Krieg zwingt Menschen in seine uralten Rollen. Doch ganz spurlos bleibt das jahrelange Ringen um Gleichberechtigung nicht. Im Ukraine-Krieg gibt es neue Formen von Heldentum und Tapferkeit – bei Männern wie Frauen.

 Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch in einem Militärkrankenhaus.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Besuch in einem Militärkrankenhaus.

Foto: dpa/-

Auf den ersten Blick scheint der Krieg in der Ukraine vergessen geglaubte Rollenbilder mit Macht wieder in die Gegenwart zu heben: Da sind die Szenen der Soldaten, die Abschied nehmen von ihren Frauen, Kindern, Eltern, um in den Kampf zu ziehen. Fast hat es etwas Unmoralisches, diese Momente voll Angst und Trennungsschmerz mit anzusehen, während man selbst in friedlicher Umgebung zu keinen tragischen Entschlüssen gezwungen ist.

Mit dem Leid, das Krieg bedeutet, ist auch die alte klare Trennung zwischen den Geschlechtern zurück, das  Festlegen auf tradierte Kategorien, nach denen es männlich ist, in den Kampf zu ziehen, während die Frauen sich „in Sicherheit bringen“ oder daheim „die Stellung halten“. Dazu gehört auch das Verbot für Ukrainer im wehrfähigen Alter, das Land zu verlassen – im Grunde alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Durch Putins Angriff und den Einbruch der Gewalt stehen sie plötzlich nur noch vor der Wahl, Soldat zu sein oder Deserteur. Ukrainer, die in anderen Ländern leben, bekommen es zu spüren, wenn sie als Feiglinge angefeindet werden.  Auch im Westen lebende Russen bekommen diese Verengung von Zuschreibungen zu spüren, wenn sie plötzlich von ihrer Umgebung wie Feinde behandelt werden.

Der Krieg als brutaler Einbruch der Grausamkeit in das zivile Leben ist selbst so archaisch, dass er mit erschreckender Schnelligkeit ein Freund-Feind-Denken reaktiviert, Menschen unerbittlich in seine uralten Rollen zwingt und scheinbar unabänderlich etwas hervorbringt, das der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger das „heroische Schema“ nennt.

Doch Zeiten kehren nie genau gleich zurück. Und so haben sich Heroismus und Männlichkeitsbilder bei näherer Betrachtung eben doch gewandelt. Das ist in der Ukraine gerade auch zu sehen, und es ist ein Zeichen der Stärke und der Modernität des Landes, wie es mit den Angriffen auf Leib, Leben, Existenzen, wie es mit dem Einbruch der Barbarei  umgeht. Nämlich nicht martialisch, nicht mit Hass- und Rachefuror. Die Ukrainer zeigen sich als menschlich zutiefst getroffen und begegnen dem Unfassbaren, das ihnen geschieht, mit einer nüchternen Entschlossenheit, einer beschämend unpathetischen Tapferkeit, die so viel stärker wirkt als all die von propagandistischen Lügen verzerrten Auftritte der russischen Führungsriege.

Natürlich wird dieser Eindruck derzeit stark von den politisch Verantwortlichen in der Ukraine bestimmt, von den Tweets und Videobotschaften des Präsidenten Wolodymyr  Selenskyj oder den Wortmeldungen der Klitschko-Brüder aus Kiew. Diese Männer besitzen eine Popularität, die aus friedlichen Zeiten stammt und sie in zivilen Rollen bekannt machte – als Komiker, als Sportler, als Medienstars. Sie nun in Tarn-Pullis zu sehen, mit schusssicheren Westen, müden Gesichtern, macht augenfällig, wozu das gesamte Land gezwungen wird: sich in einem Krieg zu bewähren, den es nicht wollte, in den es mutwillig gerissen wurde.

Die Helden der Ukraine sind keine stahlharten Krieger mit bedingungslosem Opfermut, sie wirken auf zivile Art tapfer, zugleich smart, bodenständig, nah bei ihren Leuten, noch der Selbstironie fähig. Ihr Heroismus ist einer wider Willen, was ihn gerade für Gesellschaften attraktiv macht, die schon lange nichts mehr von Krieg und Heldentum wissen wollten, die sich eingerichtet hatten in dem Glauben, die Globalisierung mit ihren wirtschaftlichen Beziehungen über Nationen- und Ideologiegrenzen hinweg, werde schon verhindern, dass hoch entwickelte Gesellschaften noch einmal in den Kriegszustand zurückfallen müssten. Selenskyj wird auch darum als neuer Typus des unpathetischen Helden gefeiert, weil er die Hoffnung verkörpert, dass jene, die das Recht auf ihrer Seite haben und auch mit modernen Kommunikationsmitteln kämpfen, mit Tweets und Kommentaren bei Instagram, dass diese entschlossenen Streiter für die Freiheit siegen mögen über die verbohrten Militärs mit ihren Großmachtfantasien und ihrer Verächtlichkeit gegenüber den eigenen Bürgern.

Genauso hat sich die Rolle und  Wahrnehmung der Frauen in diesem Krieg verändert. Nicht nur, weil auch Frauen in den Krieg ziehen und  die digitalen Netzwerke nutzen, um zu zeigen, wie sie sich rüsten, schießen üben, wie schon Mädchen Molotowcocktails bauen. Natürlich ist es auch ein Akt des verzweifelten Mutes, der Unabhängigkeit und Stärke, aus den umkämpften Städten zu fliehen und dabei die Verantwortung für Alte und Kinder zu übernehmen. Von Frauen auf der Flucht ist eine andere, aber keine  geringere Tapferkeit verlangt. Das war schon immer so, aber inzwischen wird es auch so gesehen. Auch in den belagerten Städten ringen Frauen um das Überleben ihrer Familien. Man weiß nur wenig darüber, was genau sie gerade durchmachen, dass es Schlachten anderer Art sind, in denen jedoch auch sie ihr Leben riskieren, ist gewiss.

Und da sind Frauen wie Marina Owsjannikowa, die heldenhafte Entscheidungen treffen. Der  Pianist Igor Lewit hat zu Recht gefordert, ihren Namen zu nennen, ihn zu wiederholen, so oft es geht, weil sie den einsamen Mut hatte, in der wichtigsten Nachrichtensendung des russischen Staatsfernsehens ein Plakat hochzuhalten, auf dem sie den Stop des Krieges forderte und die Lügenmaschinerie der Staatsmedien anprangerte. Medien, für die sie selbst gearbeitet hat. Es wird nun viel spekuliert darüber, ob Owsjannikowa wirklich allein handelte, ob ihr professioneller Video-Aufruf zu Protest und zivilem Ungehorsam, der vor ihrem mutigen Auftritt veröffentlicht wurde, nicht ein Zeichen dafür ist, dass sich bei den Moskauer Eliten etwas bewegt. Was Owsjannikowa noch droht, ist ungewiss. Und egal, was der Hintergrund ist, sie hat viel riskiert, ist eine Heldin auf den Schlachtfeldern der Desinformation. Eine Heldin mit russisch-ukrainischen Wurzeln, die den Irrsinn dieses Angriffskriegs verkörpert.

Soziologen und Politikwissenschaftler haben westlichen Gesellschaften schon lange das Etikett des „postheroischen“ verpasst. Zu groß ist die Skepsis gegenüber Heldenverehrung und Heldentod. Die Unbedingtheit, mit der die Ukrainer nun für ihr Land und für Werte wie Freiheit kämpfen, konfrontiert dieses Denken mit einer Wirklichkeit, in der es eben immer noch Angriffe und Überfälle, das plötzliche Zusammenbrechen der zivilen Welt geben kann. Allerdings hat das postheroische Denken auch den Blick dafür geweitet, wie stark vermeintlich schwaches Handeln sein kann. Und wie heroisch der Rückzug.

Der Verzicht auf Ruhm und Ehre, um Menschenleben zu retten – auch das scheint zum Selbstverständnis des ukrainischen Präsidenten Selenskyj zu gehören. Früh ist er von seiner Forderung einer Nato-Mitgliedschaft für sein Land abgerückt, hat Gesprächsbereitschaft mit dem Aggressor bewiesen. Das wurde als Folge der militärischen Unterlegenheit der Ukraine gewertet, als realpolitischer Versuch, das Leid in den belagerten Städten möglichst schnell zu beenden. Der postheroische Held wollte nie in den Krieg und ist bereit, für Frieden auf Ruhm und Ehre zu verzichten. Könnte sein, dass die Ukraine solche Helden hat.

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