Weihnachten in der Ukraine „Drei Flugstunden entfernt von uns können die Menschen nur ans Überleben denken“

Interview | Berlin · An Heiligabend herrscht in der Ukraine genau zehn Monate Krieg. Auch wenn Weihnachten in der Ukraine traditionell erst am 7. Januar gefeiert wird, überschattet der Krieg die Vorweihnachtszeit. Brigitta Triebel, Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Charkiw, verfolgt die Geschehnisse in der Ukraine und beurteilt im Interview die aktuelle Lage der Menschen.

 In Kiew steht ein Weihnachtsbaum – geschmückt in den Nationalfarben. Von Weihnachtsstimmung ist jedoch wenig zu spüren.

In Kiew steht ein Weihnachtsbaum – geschmückt in den Nationalfarben. Von Weihnachtsstimmung ist jedoch wenig zu spüren.

Foto: dpa/Vasilisa Stepanenko

In Deutschland steht Heiligabend vor der Tür. In der Ukraine wird Weihnachten traditionell erst am 7. Januar gefeiert. Aber denken die Menschen in der Ukraine aktuell überhaupt an ein Weihnachtsfest?

Triebel Die Menschen haben keine Zeit, keine Kraft und wahrscheinlich auch gar nicht mehr die finanziellen Mittel, um ein Weihnachtsfest vorzubereiten. Drei Flugstunden entfernt von uns können die Menschen nur ans Überleben denken. Der Krieg geht jeden Tag unvermindert weiter. Außerdem sind viele Familien getrennt, vielen Frauen und Kinder leben im Ausland, unter anderem hier in Deutschland. Die Familienväter, Großväter oder Söhne sind in der Ukraine. Teilweise kämpfen sie, manche sind schon gefallen. Aber auch die Männer, die nicht kämpfen, sind jeden Tag diesen potenziellen Raketenangriffen ausgesetzt. Deswegen ist Weihnachten ganz weit weg für die Ukrainer.

Aktuell ist insbesondere die ukrainische Infrastruktur Ziel der russischen Angriffe. Wie beurteilen Sie die Lage?

Triebel Die Menschen erwarten eigentlich täglich neue Angriffe. Häufig gibt es eine erste Welle von Raketenangriffen, in der versucht wird, die ukrainische Luftabwehr zu überfordern. Und dann kommt eine zweite Welle, die auf die kritische Infrastruktur zielt. Die größte Sorge der Ukrainer ist: Wie kommen wir durch den Winter? Aber auch die langfristigen Folgen dieser Angriffe führen dazu, dass die Ukraine massiv geschädigt wird. Die Kosten für den Wiederaufbau werden immer höher. Im Moment sagt die Weltbank, dass 600 Milliarden Euro benötigt werden. Der Ausfall von Strom, Heizung und Wasser bedeutet auch, dass der Niedergang der ukrainischen Wirtschaft weiter voranschreitet. Jetzt allein liegt der Wirtschaftseinbruch bei mehr als 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Ist das auch ein Ziel Russlands?

Triebel Das sind ja keine zufälligen Angriffe. Ein Ziel Russlands ist, die Ukraine in diesem Winter zu zermürben. Also nicht nur die zivile Bevölkerung zum Aufgeben zu zwingen, sondern auch eine Flüchtlingsbewegung nach Europa zu provozieren und im Westen noch einmal die Zweifel zu nähren, ob die Ukraine wirklich durchhalten kann. Russland hat offenkundig momentan keine andere Strategie, weil sie an der Front im Moment nicht weiter vorankommen.

Was bedeuten die Angriffe auf die Infrastruktur konkret für die Menschen?

Triebel Im Moment wird es Tag für Tag kälter, es kann bis zu minus 30 Grad kalt werden. Deshalb ist das Wichtigste, dass die Energie- und Wasserversorgung funktioniert. Daran hängt alles. Neben den regelmäßigen russischen Angriffen gibt es fast täglich Notabschaltungen des Stroms, weil das gesamte Netz so instabil geworden ist. Wenn man nicht mehr heizen kann, frieren die Rohre ein und platzen. Im Moment leben schon mehr als zwei Millionen Menschen in stark beschädigten Wohnungen und Häusern. Wenn Energie und Wasser für die Gesundheitsversorgung fehlen, heißt das, dass man Notfälle nicht mehr versorgen kann, Operationen nicht mehr tätigen kann. Und für viele Menschen, gerade in den Städten in der Nähe der Front, wird es schwierig, dass humanitäre Hilfe sie erreicht. Wir müssen damit rechnen, dass gerade vulnerable Gruppen, also ältere, kranke und geschwächte Personen, massiv unter diesem Krieg leiden werden. Sie werden tatsächlich nicht nur frieren, sondern es gibt die Gefahr, dass sie erfrieren, vielleicht auch verhungern. Auch die mehr als sechs Millionen Binnenflüchtlinge leben nicht immer in winterfesten Unterkünften. Und die Soldaten, die an der Front kämpfen, sind den Minustemperaturen in den Schützengräben ausgeliefert.

Erwarten Sie, dass unter diesen Umständen noch mehr Menschen fliehen werden?

 Brigitta Triebel leitet seit 2020 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Charkiw in der Ukraine.

Brigitta Triebel leitet seit 2020 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Charkiw in der Ukraine.

Foto: KAS

Triebel Ich habe den Eindruck, dass die Menschen, die jetzt noch vor Ort sind, wirklich nur im allerletzten Notfall fliehen würden. Aber umso länger und umso härter der Krieg wird, desto mehr Menschen werden das Land verlassen müssen. Und ob all die Geflüchteten wiederkommen, das hängt natürlich von der Dauer des Krieges ab und da habe ich große Zweifel. Schon jetzt sind ja fast acht Millionen Menschen in die Europäische Union geflohen.

Welche Hilfsmöglichkeiten gibt es vor Ort?

Triebel Der ukrainische Staat versucht, die zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen. Das ist eine schwierige Arbeit, häufig drohen erneute Anschläge auf die schon zerstörte Technik, mittlerweile fehlen das Material und auch die Ingenieure. Außerdem wurden in einigen Städten Aufwärmorte eingerichtet. Dort haben die Menschen zumindest die Möglichkeit, sich aufzuwärmen, ihr Handy aufzuladen oder zu übernachten. Zudem werden Generatoren und weitere Technik für die Notversorgung an Krankenhäusern und für öffentliche Strukturen besorgt.

Und welche Unterstützungen gibt es aus Deutschland?

Triebel Gerade in den letzten Wochen sind abermals Hilfszusagen gemacht worden. Das heißt finanzielle Unterstützung für die Ukraine, aber auch mehr Materialhilfe. Wenn man privat helfen will, ist es am besten, Geld an Hilfsorganisationen zu spenden, weil die genau wissen, was wo benötigt wird. Beispielsweise Generatoren und Heizgeräte. Was wir aber auch nicht vergessen dürfen: Die Luftabwehr und die Verteidigung der Ukraine müssen verstärkt werden durch westliche Waffenlieferungen. Da sind auch schon gute Schritte gemacht worden, aber jetzt schon muss an das Frühjahr gedacht werden, falls es dann eine weitere russische Offensive gibt.

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