Fragen und Antworten Was bislang über den Raketeneinschlag in Polen bekannt ist

Update | ​ Nusa Dua/Kiew/Warschau · Auf Bali ist es mitten in der Nacht, als bekannt wird, dass auf Nato-Gebiet in Polen eine Rakete eingeschlagen ist. Der G20-Gipfel bekommt plötzlich einen anderen Ton. Die ersten Sorgen: ein Angriff aus Russland? Dann deutet vieles auf eine andere Erklärung hin.

Raketeneinschlag in polnischem Dorf an der Grenze zur Ukraine
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Raketeneinschlag in polnischem Dorf an der Grenze zur Ukraine

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Foto: AFP/WOJTEK RADWANSKI

Ein Raketeneinschlag auf Nato-Gebiet in Polen hat die Ferieninsel Bali zu einem Ort der Krisendiplomatie werden lassen. Die wichtigsten Staats- und Regierungschefs aus dem Westen wurden von der Nachricht in mehr als 10 000 Kilometern Entfernung überrascht - beim G20-Gipfel der großen Industrie- und Schwellenländer. Wegen des großen Zeitunterschieds erfuhren die meisten davon mitten in der Nacht: Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem Hotel gegen drei Uhr morgens.

Mindestens zwei Menschen kamen dabei ums Leben. Anfangs waren die Sorgen groß, dass der Beschuss aus Russland erfolgt sein könnte. Der Krieg in der Ukraine hätte damit das Territorium der Nato erreicht. Nach einer Reihe hektischer Krisensitzungen deutete dann vieles auf ein Geschoss aus der Ukraine hin - eine fehlgeleitete Flugabwehrrakete gegen den Dauerbeschuss aus Russland. Noch sind aber viele Fragen offen. Ein Überblick:

Was ist bislang über den Raketeneinschlag bekannt?

Der Raketeneinschlag in Polens Grenzgebiet war nach Angaben von Präsident Andrzej Duda kein gezielter Angriff auf das Nato-Land. Es gebe auch keine Beweise dafür, dass die Rakete von Russland abgefeuert worden sei, sondern es handele sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine ukrainische Flugabwehrrakete, sagte Duda am Mittwoch in Warschau.

Auch die Nato hat keine Erkenntnisse, dass der Raketeneinschlag von Russland ausgegangen ist. Das betonte Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einer Sondersitzung des Nato-Rats in Brüssel am Mittwoch. Es sei wahrscheinlich, dass eine ukrainische Luftabwehrrakete versehentlich in Polen eingeschlagen sei. Die sei aber nicht die Schuld der Ukraine, betonte Stoltenberg. Russland müsse diesen „sinnlosen Krieg“ beenden. Zunächst hatte das polnische Außenministerium mitgeteilt, es handele sich um eine Rakete aus russischer Produktion.

Die Rakete schlug am Dienstagnachmittag auf dem Gelände eines Bauernhofs in Przewodow ein - einem Dorf ganz im Osten des Landes, keine zehn Kilometer von der Grenze zur Ukraine und damit auch von der Nato-Ostgrenze entfernt. Zwei Polen starben dabei. Moskau bestritt schnell und energisch, dass es sich um einen russischen Angriff gehandelt habe. Das Verteidigungsministerium sprach stattdessen von einer „gezielten Provokation“.

Wer hat gefeuert?

„Absolut nichts deutet darauf hin, dass dies ein absichtlicher Angriff auf Polen war“, sagte der polnische Präsident am Mittwoch vor Journalisten. „Höchstwahrscheinlich war dies eine Rakete, die in der Raketenabwehr eingesetzt wird, das heißt, dass sie von den ukrainischen Verteidigungskräften eingesetzt wurde“, sagte Duda. Die Nato sieht keine Hinweise, dass der Raketeneinschlag von Russland ausgegangen ist.

US-Präsident Joe Biden hatte bereits auf Bali gesagt, die Flugbahn lasse es „unwahrscheinlich“ erscheinen, dass eine Rakete aus Russland abgefeuert wurde. Hinter verschlossenen Türen berichtete er den Verbündeten, dass es sich um eine Flugabwehrrakete aus Beständen der Ukraine handeln könnte.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach später davon, dass zwei Raketen auf polnischem Boden niedergegangen seien - nicht nur eine. Auf die Frage nach den mutmaßlichen Urhebern antwortete er: „Heute können wir das nicht zuordnen. Wir müssen sehr vorsichtig bleiben.“ Auch Scholz mahnte, man solle mit Festlegungen „vorsichtig sein“.

Was ist über das mutmaßliche verwendete Geschoss bekannt?

Fotos von Trümmerteilen deuten für Experten auf eine Rakete des Flugabwehrsystems S-300 hin. Ähnlich äußerte sich Biden. Das System S-300 ist sowjetischer Bauart - ein wesentlicher Bestandteil der ukrainischen Flugabwehr, die Tag für Tag enorm beschäftigt ist. Allein am Dienstag feuerte Russland nach ukrainischer Zählung mehr als 90 Raketen und Marschflugkörper ab. Die Nachrichtenagentur Interfax Ukraina berichtete zudem unter Berufung auf Militärexperten, dass Trümmerteile auch auf einen russischen Marschflugkörper vom Typ Ch-101 hindeuten.

Wie reagiert Polen?

Das EU- und Nato-Mitglied zwischen Deutschland und der Ukraine versetzte Teile seiner Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft. Warschau bestellte zudem den russischen Botschafter ein und alarmierte die Nato. Dabei ging es auch um die Frage, ob ein Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags eingeleitet wird. In der Zentrale der westlichen Militärallianz in Brüssel stand ein Krisentreffen der ständigen Vertreter der 30 Bündnisstaaten auf dem Programm.

Was regelt Artikel 4?

Er sieht Beratungen vor, wenn sich einer der Nato-Staaten von außen gefährdet sieht. Konkret heißt es darin: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“ Der Artikel wurde seit Gründung des Bündnisses 1949 sieben Mal in Anspruch genommen - zuletzt am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Beantragt wurde das damals von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Tschechien und der Slowakei.

Warum beantragt Polen nicht den Bündnisfall nach Artikel 5?

Weil es keine Hinweise darauf gab, dass eine oder mehrere Raketen gezielt auf das polnische Dorf abgefeuert wurden. In Artikel 5 ist geregelt, dass die Nato-Staaten einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere Partner als Angriff gegen alle ansehen. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, Beistand zu leisten. Artikel 5 wurde erst ein einziges Mal aktiviert - nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA.

Wie reagieren die Partner Polens?

Zum Zeitpunkt der Explosion saßen die meisten Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten gerade bei einem Abendessen unter freiem Himmel - Bali ist in der Zeit sieben Stunden voraus. Russlands Außenminister Sergej Lawrow, durch den sich Kremlchef Wladimir Putin vertreten ließ, hatte die Insel da schon verlassen. Am Morgen danach berief Biden dann die Krisensitzung ein. Auf einem Foto, das die deutsche Seite veröffentlichte, sind Biden, Scholz & Co. mit ernsten Gesichtern zu sehen.

 Polnische Polizisten patrouillieren im Dorf Przewodow im Südosten Polens.

Polnische Polizisten patrouillieren im Dorf Przewodow im Südosten Polens.

Foto: dpa/Wojtek Jargilo

Später wurde eine Erklärung veröffentlicht, in der es heißt: „Wir bieten Polen unsere volle Unterstützung und Hilfe bei den laufenden Ermittlungen an.“ Zugleich wurde Russland für „barbarische Angriffe“ verantwortlich gemacht. Aus Sicht der G7- und Nato-Staaten trägt Russland so oder so die Schuld an den beiden Toten in Polen - weil es ohne Russlands Angriffe auf die Ukraine gar nicht zu dem Zwischenfall gekommen wäre.

(zim/dpa)
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