ARD-Journalist Vassili Golod “Wenn ich Angst hätte, könnte ich diesen Job nicht machen“

Interview | Kiew · Vassili Golod ist gebürtiger Ukrainer, Kriegsreporter und leitet das neu eröffnete ARD-Studio in Kiew. Was den Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Nahost-Konflikt verbindet, wie die Arbeit im Krisengebiet aussieht und welche Szenen ihn nicht loslassen, erzählt er im Interview.

ARD-Korrespondent Vassili Golod steht während einer bei Recherchereise neben Viktoria. Die Frau lebte 15 Kilometer entfernt von der Grenze zu Russland, den Kontakt zu ihren Verwandten dort hat sie abgebrochen.

Foto: picture alliance/dpa/WDR/Robin Drescher/WDR/DPA

Recherchieren an der Front, produzieren in Autos oder auf Hotelzimmerboden – mehr als anderthalb Jahre war das Alltag für die ARD-Journalisten, die über den Krieg in der Ukraine berichten. Jetzt hat die Rundfunkanstalt mit Geldern vom WDR und aus der Umschichtung des Studios in Moskau ein festes Büro in Kiew eröffnet, mitten zwischen dem Maidan und dem Regierungsviertel. Und mitten im Krieg, der gerade von den Terrorangriffen der Hamas auf Israel in den Hintergrund zu rücken scheint. Auch deshalb ist die Studioeröffnung ein Statement, erklärt Vassili Golod, der Leiter des Teams im Interview. Der Termin in dieser Woche, zu dem auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und der Sprecher des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kamen, wurde kurz vorher noch von einem Luftalarm geprägt – dem ersten in Kiew seit zwei Wochen.

Vassili, erst gab es Luftalarm, dann die Studioeröffnung – steht das symbolisch für euren Arbeitsalltag in Kyiv?

Golod Luftalarme gehören zu unserem Leben hier dazu, und wenn es bei Luftalarm bleibt, können wir im Arbeitsalltag damit umgehen. Wir alle haben aber auch schon erlebt, wie Raketen einschlagen. Erst vor ein paar Wochen bei einer Recherche in Odessa im Süden der Ukraine hat uns eine Explosion aus dem Schlaf gerissen. Dann ziehst du dir schnell etwas an, läufst in den Keller, denn auf eine Explosion könnte eine weitere folgen oder eine Druckwelle Erschütterungen auslösen. Auf all das sind wir in der Theorie vorbereitet, in der Praxis ist das trotzdem etwas Anderes.

ARD-Journalist Vassili Golod im Studio. Foto: Thomas Bartilla/imago

Foto: IMAGO/Future Image/Thomas Bartilla/imago

Was bedeutet „vorbereitet“ in dem Zusammenhang?

Golod Alle Reporterinnen und Reporter, die für die ARD in Kriegs- oder Krisengebieten im Einsatz sind, müssen vorher ein spezielles Training absolvieren, in dem man lernt: Wie verhalte ich mich bei Angriffen? Wie bewege ich mich in verminten Gebieten? Wo finde ich Schutz? Wie helfe ich anderen? Als im Herbst 2022 die gezielten Angriffe Russlands auf die ukrainische Infrastruktur begannen und ich zum ersten Mal eine Rakete am Fenster vorbeifliegen sah, hat es trotzdem einige Sekunden gebraucht, um das zu realisieren. Ich schrieb in unsere Chat-Gruppe: War das ein Einschlag? Wir haben uns in Sicherheit gebracht und gleichzeitig überlegt, wie wir in dieser Situation über die Ereignisse berichten können. Solche Erfahrungen machen wir immer wieder, aber es ist nichts, woran man sich gewöhnen kann und darf. Es bleibt ein unbeschreiblich unangenehmes Gefühl.

Überwiegt in diesen Momenten der Impuls, zu berichten, oder die Angst?

Golod Wenn ich Angst hätte, könnte ich diesen Job nicht machen. Es ist eher ein riesiger Respekt, denn es ist klar, dass wir aus einem Kriegsgebiet berichten, dass es nahe der Front auch Artilleriebeschuss geben kann. Gleichzeitig gibt es die Verantwortung, dass Menschen in Deutschland eben genau das erfahren, was hier passiert. Dafür überschreitet man auch schon einmal Grenzen im Kopf, die man sich zuvor mal gesetzt hat – ich habe mich nie als Kriegsreporter gesehen.

Wie ist das Team insgesamt aufgestellt?

Golod Die Kollegin Rebecca Barth hat bereits als Freie Journalistin seit 2014 über den Krieg in der Ostukraine berichtet, auch Andrea Beer lebt und arbeitet schon lange hier. Birgit Virnich war zuvor unter anderem Korrespondentin in Moskau und hat in dieser Zeit viel aus der Ukraine berichtet. Wir sprechen alle Russisch, teils auch schon Ukrainisch und arbeiten täglich mit Ukrainerinnen und Ukrainern im Team zusammen.

Die Eröffnung eures ARD-Studios ist nun genau in die Zeit des Terrorangriffs der Hamas auf Israel gefallen. Was bedeutet der Nahostkonflikt für eure Arbeit?

Golod Es zeigt, dass die Entscheidung, hier ein Studio aufzumachen, genau richtig ist. Denn es geht in Kriegen nicht nur darum, Schlagzeilen für die Tagesschau zu liefern, sondern sich in die Themen einzuarbeiten, Hintergrundstücke zu liefern, Zusammenhänge zu erklären. Dafür gibt es jetzt Gelegenheit. Ich arbeite zum Beispiel gerade an einem Beitrag, um die Verbindung des Kriegs gegen die Ukraine mit dem Nahost-Konflikt aufzuzeigen: Es gibt hier im Land ja eine große jüdische Community. Auch Jüdinnen und Juden sind mit Beginn des russischen Angriffskriegs nach Israel geflohen, um Schutz zu finden. Seit den Angriffen der Hamas-Terroristen durchleben diese Menschen nun zum zweiten Mal einen brutalen Krieg.

Trotzdem gibt es eine gewisse Kriegsmüdigkeit bei Deutschen, was den Medienkonsum betrifft.

Golod Ob wir jetzt prominent mit den Themen laufen oder nicht, wir spüren an unseren Abrufzahlen und den direkten Rückmeldungen, dass das Interesse an der Lage in der Ukraine weiter da ist. Es hat sich aber verschoben – waren anfangs vor allem Updates gefragt, schnelle News, Zahlen und Fakten, sind es inzwischen eher längere Analysen und Einordnungen. Dazu zählen Berichte über die Entwicklungen um die Krim, oder etwa über die Gründe dafür, dass Kiew besser geschützt ist. Dass das auch daran liegt, dass der Westen vermehrt Flugabwehrsysteme geliefert hat – diese Zusammenhänge wollen wir beleuchten.

Welche Hürden gibt es bei eurer Arbeit im Alltag? Welche Sicherheitsvorkehrungen?

Golod Das kommt ganz darauf an, wo wir unterwegs sind. In Kiew gehen wir ohne Schutzweste raus, in anderen Städten des Landes haben wir Sicherheitsberater dabei. Wir informieren uns unter anderem via Telegram, wo auch die ukrainische Luftabwehr offiziell über Angriffe informiert. Die klare Regel ist: Sobald eine Explosion zu hören ist, ist der nächste Keller oder Raum mit tragenden Wänden aufzusuchen; wer draußen unterwegs ist, sollte sich in die nächste U-Bahnstation begeben.

Und journalistisch?

Golod Wir recherchieren das, was wir recherchieren wollen. Wir haben zu keinem Zeitpunkt „embedded“ gearbeitet, die Pressefreiheit in der Ukraine funktioniert auch im Krieg weitgehend. Aus Sicherheitsgründen können wir teils keine klar erkennbaren Standorte oder aktuelle Bilder von Angriffen senden, weil wir wissen, dass das russische Militär unsere Berichte auswertet. Die Sicherheit der Menschen geht vor. Nichtsdestotrotz berichten wir inhaltlich kritisch.

Spielt deine Herkunft – russische Familie mütterlicherseits, ukrainische väterlicherseits – eine Rolle? Gibt es deshalb Vorwürfe, Kritik, Hasskommentare?

Golod Von konstruktiver Kritik bis Trollangriffen ist alles dabei. Das gehört dazu, wenn man in der Öffentlichkeit steht. Ich denke grundsätzlich, dass meine Herkunft ein Vorteil ist. Ich wurde in Charkiw geboren und bin ab dem zweiten Lebensjahr in Niedersachsen aufgewachsen. Ich kenne die Ukraine, lerne sie weiter kennen, und meine Großeltern haben in Russland gelebt. Ich weiß, was staatliche Propaganda bewirken kann, nämlich, dass die Menschen für Argumente und Fakten nicht mehr zugänglich sind. Mir sind die Sichtweisen beider Länder auch aus meinem Studium der Geschichte und Politik bekannt, das journalistische Handwerk habe ich anschließend gelernt. Unabhängig von meiner Herkunft gehört es zur Berichterstattung über die Ukraine dazu, die Fakten zu benennen: Nämlich, dass Russland die Ukraine angegriffen hat und ihr das Existenzrecht abspricht.

Welche Momente in den vergangenen 18 Monaten waren besonders belastend?

Golod Zu einem zerstörten Wohnhaus zu kommen, wo Leichensäcke herausgetragen werden, die Angehörigen gerade erfahren, dass sie ihre Liebsten verloren haben. Wenn man in diese Gesichter schaut, dann ist das etwas, das einen nicht kaltlässt, einen beschäftigt. Aber es ist auch unser Job, alles abzubilden, was passiert. Auch dass es trotz allen Leids auch Menschen gibt, die sich treffen, die Party machen, weil das die Freiheit ist, für die sie kämpfen. Sie hätten nur dieses eine Leben, sagte neulich eine junge Frau, natürlich bekämen sie weiter Kinder, natürlich machten sie weiter. Solange, bis sie an der Zukunft des Landes arbeiten könnten, ohne die Zweifel, morgen aufzuwachen oder nicht.