Interpol fahndet nach Wikileaks-Gründer Julian Assange - US-Staatsfeind Nummer eins

Washington (RP). Interpol sucht Wikileaks-Gründer Julian Assange. Gegen ihn laufen Ermittlungen wegen Vorwürfen von Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Nötigung. Auch die US-Regierung hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Mann festzusetzen. Assange droht eine Anklage wegen Spionage.

Wikileaks-Gründer: Das ist Julian Assange
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Das ist Julian Assange

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Foto: dpa/Frank Augstein

Juristen des Justiz-, Verteidigungs- und Außenministeriums prüften derzeit diese Möglichkeit, hieß es in Washington. Im April war er zum letzten Mal in Washington, im National Press Club, einer feinen Adresse nur einen Steinwurf entfernt vom Weißen Haus. Julian Assange stand markant im Rampenlicht, ein Mann, dessen Gesicht man sich sofort merkt. Er ist noch keine 40 Jahre alt, hat aber schon weiße Strähnen im Haar.

Der Australier war gekommen, um ein bis dato geheimes Video vorzustellen. Unter dem anklagenden Titel "Kollateralmord" zeigte es amerikanische Soldaten, wie sie in Bagdad von einem Hubschrauber auf Zivilisten feuern, die Kamera eines Fotografen mit der Waffe eines Aufständischen verwechseln und das Blutbad in der irakischen Hauptstadt geradezu schockierend kaltblütig kommentieren. Es war ein echter Coup, vom tapferen Ritter in der Höhle des Löwen war die Rede. Wiederholungen scheinen ausgeschlossen. So bald dürfte Assange kein Flugticket mehr in die US-Hauptstadt buchen.

"Wir rasseln nicht bloß mit dem Säbel"

Der Wikileaks-Gründer ist derzeit abgetaucht. Seinen Aufenthaltsort kennt niemand, vermutet wird er in Großbritannien. In den USA denkt Justizminister Eric Holder darüber nach, Klage gegen ihn zu erheben, womöglich nach dem Espionage Act von 1917, wonach sich strafbar macht, wer geheime Informationen verbreitet.

Bei einem Amerikaner greifen die Paragrafen, aber bei einem Australier? "Wir rasseln nicht bloß mit dem Säbel. Wenn es Lücken in unseren Gesetzen gibt, werden wir sie schließen", sagt Holder und lässt den Rest im Vagen.

Einen Gerichtsprozess, wenn es denn dazu kommt, hat Assange schon einmal durchgestanden. 1991 knackte der junge Hacker, der sich damals Mendax nannte, den Zentralcomputer der kanadischen Telefongesellschaft Nortel, wobei eine launige Nachricht seinen Sinn für Humor verriet. "Es war nett, mit Ihrem System zu spielen. Wir haben nichts kaputtgemacht und sogar ein paar Sachen verbessert. Bitte rufen Sie nicht die Polizei."

Inspiration durch Kafka und Solschenizyn

Drei Jahre später stand er vor einem Richter, bis zu zehn Jahre Gefängnis drohten, schließlich blieb es bei einer eher symbolischen Geldbuße. Denn der Mann in der Robe sah nichts anderes im Spiel als "eine Art intellektueller Neugier". Ken Day, der Detektiv, der die Ermittlungen leitete, glaubte wiederum erkannt zu haben, warum das Computergenie elektronisch bei Nortel eingestiegen war. "Ich glaube, er handelte aus dem Glauben heraus, dass jeder Zugang zu allem haben soll."

Ein selbstloser Anarchist, misstrauisch gegenüber jeglicher Staatsbürokratie, inspiriert durch die Romane Franz Kafkas und Alexander Solschenizyns — so wird Julian Assange seitdem oft beschrieben. Politisch geht es für den Australier nicht um Kriterien wie links oder rechts, sondern um die schrankenlose Freiheit des Einzelnen im Konflikt mit etablierten Institutionen.

Weg mit jeder Zensur

Nach dieser Logik darf ein Informationsleck als Mittel dienen, um dem Staat Macht zu entreißen, zu Gunsten des Individuums. "Ich bin Journalist, Publizist und Erfinder", umreißt der 39-Jährige sein Credo. "Ich habe versucht, ein System zu erfinden, das in aller Welt das Problem der Pressezensur löst."

Mit zwei anderen Hackern hatte Assange bereits als 16-Jähriger die Gruppe "International Subversives" gegründet. Das Trio drang unter anderem in die Computernetzwerke des amerikanischen Verteidigungsministeriums und des Atomlabors in Los Alamos ein. Die australische Polizei beschlagnahmte daraufhin Assanges komplette Computeranlage.

Wegen des Angriffs auf die kanadische Telefonfirma verlor Julian Assange auch das Sorgerecht für seinen Sohn — möglicherweise ein weiterer Grund für sein immer tieferes Misstrauen und einen regelrechten Verfolgungswahn, von allen möglichen Behörden bespitzelt zu werden.

Er vergleicht sich mit Tom Sawyer

Der Name Assange geht auf Ah Sang zurück, einen Chinesen, der im 19. Jahrhundert nach Australien auswanderte. Mütterlicherseits stammen die Vorfahren aus Irland und Schottland — Bauern, die in der Weite des dünn besiedelten Kontinents ein besseres Leben erträumten.

Julian Paul Assange wird 1971 in Townsville an der australischen Nordostküste geboren. Er führt ein aufregendes Vagabundenleben, "wie Tom Sawyer", sagte er in einem Interview: Als er 14 ist, hat er schon 37 Mal den Wohnort gewechselt. Seine Mutter, ständig auf Achse, heiratet zunächst einen von Bühne zu Bühne wechselnden Theaterregisseur. Später ehelicht sie einen Musiker, von dem sie sich trennt, weil er sich als prügelnder Macho entpuppt.

2006 geht es los

An regulären Schulen lernt Julian inmitten der privaten Turbulenzen nur selten. Manchmal wird er zu Hause unterrichtet, meist verschlingt er Bücher, um sich Wissen anzueignen. Bestätigung findet er am Computer, einem Commodore 64, an dem er zu programmieren beginnt. Was er an Computern möge, so sagte Julian Assange einmal, sei ihre karge Strenge. Es sei wie beim Schach, da gebe es auch nichts Zufälliges, nicht zu viele Regeln, nur schwierige Denkaufgaben, die man lösen müsse.

Nach dem Nortel-Verfahren studierte der Australier an der Universität Melbourne Physik, rümpft aber bald die Nase über seine Wissenschaftler-Kollegen, die er in Internetforen als karrieregeile Opportunisten schmäht. 2006 gründete er Wikileaks, im Dezember desselben Jahres veröffentlichte er zum ersten Mal ein Geheimdokument. Es ging um einen Warlord in Somalia, der Kriminelle als Auftragskiller anheuern wollte, um "störende" Regierungsbeamte zu beseitigen.

(RP)
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