Gastbeitrag Für westliche Werte kämpft in Syrien keiner

Düsseldorf · In Syrien herrscht fürs Erste ein brüchiger Waffenstillstand. Das Land ist viergeteilt zwischen Regierung, Rebellen, IS und Kurden. Die militärischen Kräfteverhältnisse sind schwierig zu überblicken. Klar ist allerdings: Die meisten Regimegegner wollen einen Gottesstaat.

 Jürgen Todenhöfer im Gespräch mit Christian Emde, der sich beim IS Abu Qatada nennt. Recherchen für das Buch "Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat'".

Jürgen Todenhöfer im Gespräch mit Christian Emde, der sich beim IS Abu Qatada nennt. Recherchen für das Buch "Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat'".

Foto: RTL (Archiv)

Monatelang haben mein Sohn Frederic und ich die Kräfteverhältnisse auf dem syrischen Schlachtfeld recherchiert - beim IS, bei Rebellen, bei der Regierung, bei Geheimdiensten und bei Denkfabriken. Syrien ist viergeteilt: in ein Regierungs-, ein IS-, ein Rebellen- und ein Kurdengebiet. Hier das Minimum dessen, was unsere Politiker über die Kräfteverhältnisse in Syrien wissen sollten:

Jürgen Todenhöfer: Für westliche Werte kämpft in Syrien keiner
Foto: KSTA/RP

Der Islamische Staat (IS) hat, anders als der US-Geheimdienst CIA behauptet, in Syrien mindestens 30.000 Kämpfer plus 20.000 im Irak. Die IS-Terroristen mit ihrer oft modernen US-Ausrüstung gelten als die stärksten Kämpfer in Syrien.

Das Rebellengebiet besteht aus vielen Kleingebieten. Zahlenmäßig ist die salafistische "Islamische Front" die größte Rebellen-Koalition. Sie umfasst 50.000 bis 65.000 Kämpfer. Unter ihnen gehören 15.000 bis 20.000 zu "Ahrar al Scham" ("Freie Männer Syriens"), 8000 bis 10.000 zu "Dschaisch al Islam" ("Armee des Islam") und 6000 zu "Liwa al Tawhid" ("Brigade des einen Gottes"). 10.000 weitere sind auf kleine lokale, meist islamistische Gruppen verteilt. Sie sind nicht Teil der Islamischen Front, kooperieren jedoch eng mit ihr. Die Islamische Front kämpft und "regiert" außerdem in fast allen von ihr kontrollierten Gebieten zusammen mit "Dschabat al Nusra" ("Unterstützungsfront"), dem syrischen Ableger von Al Kaida. Die Islamische Front und Al Kaida sind in Syrien de facto Verbündete. "Dschabat al Nusra" hat mehr als 20.000 Kämpfer.

Demokratische Rebellen spielen militärisch kaum noch eine Rolle. Nur 3000 bis 5000 kann man mit viel gutem Willen "gemäßigte demokratische Rebellen" nennen. Wirklich gemäßigt sind auch sie nicht. Im Krieg gibt es keine gemäßigten Rebellen mehr, wie es im Kampf keine gemäßigten Soldaten mehr gibt. Alles andere ist Theorie. Das gilt auch für frühere Kämpfer der "Freien Syrischen Armee". Sie kämpfen heute überwiegend für islamistische Rebellengruppen. Nicht nur weil diese erfolgreicher sind - sie zahlen auch besser. Da die 3000 bis 5000 "demokratischen Rebellen" isoliert zu schwach wären, kämpft der Großteil von ihnen jetzt im Norden mit der Kurdenmiliz YPG zusammen.

Das Kurdengebiet Die 25.000 bis 30.000 YPG-Kämpfer haben in erster Linie spezifisch kurdische Ziele. Gegen den IS waren sie mit massiver Luftunterstützung der USA bemerkenswert erfolgreich. Sie kontrollieren inzwischen große Gebiete im Norden Syriens. Mit Ausnahme der kurdischen YPG kämpfen in Syrien inzwischen fast alle Rebellen und Terroristen für einen religiösen Gottesstaat, wenn auch unter Umständen mit demokratischen Strukturen, die der Scharia, dem islamischen Recht, unterstellt würden. Auf keinen Fall kämpfen sie für vom Westen vertretene säkulare Freiheit oder Demokratie. Sie werden schließlich überwiegend von Saudi-Arabien und den übrigen Golfstaaten finanziert und ausgerüstet.

Das Regierungsgebiet Die staatliche syrische Armee hat zusammen mit den "National Defence Forces", paramilitärischen und lokalen Gruppen sowie Kämpfern aus dem Iran und dem Irak und der libanesischen Hisbollah 200.000 bis 220.000 Kämpfer. Etwas mehr als die Hälfte davon kämpft in den Reihen der Armee, ein weiterer großer Teil bei den lokalen "Defence Forces" und bei paramilitärischen Gruppen.

Das Regierungs-Gebiet hat die größte Bevölkerungsdichte. Mehr als sechs Millionen Syrer sind in die durch Regierungstruppen geschützten Gebiete geflohen. Fast drei Viertel der im Land verbliebenen syrischen Bevölkerung leben daher in Gebieten, die von der Regierung kontrolliert werden.

Im Laufe unserer Recherchen wurde deutlich, dass alle staatlichen Truppen, Rebellen- und Terrororganisationen sowie ihre Verbündeten in West und Ost die Zahl ihrer Kämpfer gerne höher angeben, als es der Realität entspricht. Wir sind überzeugt, dass die hier dargestellten Zahlen das Kräfteverhältnis so genau wiedergeben, wie es in einem derart chaotischen Krieg möglich ist.

(RP)
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