Umstrittener Häftlingsaustausch Israel bricht ein Tabu

(RP). Der 2006 verschleppte israelische Soldat Gilad Schalit wird gegen 1027 palästinensische Häftlinge ausgetauscht. Der Deal ist höchst umstritten. Es ist das erste derartige Abkommen mit der Hamas.

Umstrittener Häftlingsaustausch: Israel bricht ein Tabu
Foto: AP, AP

Jubel im Gaza-Streifen und zugleich Freude in Jerusalem — das ist eigentlich kaum vorstellbar. Doch als die Nachricht von dem bevorstehenden Gefangenenaustausch zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas am Montagabend durchsickerte, brach an beiden Orten unbändiger Jubel aus.

Zehntausende strömten in Gaza auf die Straßen, um die angekündigte Freilassung von 1027 Palästinensern aus israelischer Haft zu feiern. Zur selben Stunde trafen sich in Jerusalem Tausende vor Erleichterung weinend an der Residenz von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu. Hier kampieren seit mehr als einem Jahr Aviva und Noam, die Eltern des 2006 von Hamas-Kämpfern auf israelischem Territorium entführten Soldaten Gilad Schalit, um an das Schicksal ihres Sohnes zu erinnern. Jetzt soll ihr im Alter von 19 Jahren verschleppter Junge nach 1934 Tagen endlich aus der Geiselhaft freikommen — gegen die Freilassung von 1027 in israelischen Gefängnissen einsitzenden Palästinensern.

Es ist dieses Missverhältnis, dieser außergewöhnlich hohe Preis für die Befreiung des jungen Israeli, der bei aller Freude auch für Kritik sorgte. Der Riss ging bis in die israelische Regierung. Die meisten Minister hatten von dem unter höchster Geheimhaltung und anscheinend mit Unterstützung der ägyptischen Regierung wie auch deutscher Geheimdienstler ausgehandelten Deal erst im letzten Moment erfahren. Nicht alle mochten ihm zustimmen. "Das ist ein Signal an die Terroristen, dass sich Entführungen lohnen", schimpfte Infrastrukturminister Uzi Landau. Drei der 29 Kabinettsmitglieder lehnten den Austausch strikt ab.

Palästinensische Attentäter unter den Freigelassenen

Für Premierminister Benjamin Netanjahu, der sich in der Vergangenheit stets entschieden gegen Verhandlungen mit Terroristen ausgesprochen hatte, markiert Israels erster Gefangenenaustausch mit der Hamas eine Kehrtwende. Unter den Freizulassenden befinden sich auch 280 Palästinenser, die blutige Attentate auf Israelis verübt oder ermöglicht haben. Netanjahu räumte ein, dass der politische Umbruch der letzten Monate in Nahost ihn dazu bewegt habe, seine Haltung zu ändern. "Ich weiß nicht, ob angesichts des Wandels in unserer Region ein besserer Deal oder überhaupt ein Deal in naher Zukunft möglich gewesen wäre. Hätten wir diese Gelegenheit verpasst, könnte es sein, dass Gilad überhaupt nicht mehr hätte heimkommen können", so Netanjahu.

Möglicherweise haben die Revolten in den arabischen Ländern aber auch die Gegenseite unter Druck gesetzt. Israelische Unterhändler berichten, dass die Hamas im Juli nach langem Schweigen plötzlich ein neues Angebot vorgelegt habe. Dahinter, so vermuten die Israelis, könnte die Sorge der Hamas-Funktionäre stecken, angesichts der Unruhen in Syrien ihren wichtigsten Verbündeten zu verlieren. Über Damaskus und die dem Assad-Regime hörige libanesische Schiiten-Miliz Hisbollah läuft der finanzielle und wohl auch militärische Nachschub für die Machthaber in Gaza. Auch für die Islamisten war der Zeitpunkt reif, zu einer Einigung zu kommen.

Jahrelanges Ringen von Hamas und Fatah

Dabei spielt auch die interne Rivalität eine Rolle. Seit Jahren ringt Hamas-Führer Khaled Maschal mit dem pragmatischen Palästinenserpräsidenten und Fatah-Vorsitzenden Mahmud Abbas um die Vormachtstellung. In den vergangenen Wochen konnte der im Westjordanland residierende Abbas dabei die Oberhand gewinnen: Sein Vorstoß, einen Palästinenserstaat in der Uno ausrufen zu lassen, trug ihm unter den Palästinensern breite Sympathie ein, während die Lage in dem von der Hamas beherrschten Gaza trostlos blieb. Jetzt könnte sich das Blatt wieder wenden. Abbas kann noch keine handfesten Erfolge vorweisen, während in den kommenden Wochen Hunderte Häftlinge heimkehren und Lobeshymnen auf die Hamas anstimmen werden. Zugleich enttäuscht Abbas viele seiner Landsleute mit seiner Kompromissbereitschaft, während Maschal im Namen aller Palästinenser Maximalforderungen stellt. Kurz: Für die Hamas ist der Deal in jedem Fall ein Sieg.

Aber auch Netanjahu darf auf politische Rendite hoffen. Nachdem seine Regierung in den letzten Wochen sowohl außen- wie auch innenpolitisch unter Druck geraten war, dürften die Schlagzeilen jetzt wieder positiver werden. Schalits Schicksal hatte die ganze Nation bewegt; Hunderttausende hatten sich mit dem entführten Soldaten solidarisch erklärt. In einem Land, in dem junge Männer und junge Frauen Wehrdienst leisten müssen, in dem auch Reservisten regelmäßig zu Übungen eingezogen werden, kennen viele Eltern die Sorge, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte.

Entführungen wie die von Schalit sind seit langem der Alptraum der israelischen Militärs. Die Armee tut alles, um sie zu verhindern. Die Soldaten sind angewiesen, sofort das Feuer auf die Entführer zu eröffnen, selbst wenn sie dabei das Leben ihres Kameraden gefährden. Der jüdische Staat will beinahe um jeden Preis vermeiden, erpressbar zu werden. Trotzdem ist die Praxis, israelische Geiseln als Druckmittel einzusetzen, über die Jahre immer wieder praktiziert worden.

Der Preis für Israel wurde dabei immer höher. 1978 ließ Israel 70 PLO-Aktivisten im Austausch für einen israelischen Reservisten frei; 1983 waren es bereits 4765 Libanesen und Palästinenser für sechs Soldaten; 1985, als Israel drei Soldaten heimholte und dafür 1150 Häftlinge entließ, kamen dann erstmals auch Inhaftierte frei, die israelische Zivilisten getötet hatten. Auch für sterbliche Überreste gibt es einen Preis. So tauschte Israel 2004 mit der Hisbollah 436 arabische Gefangene und die Leichen von 59 libanesischen Kämpfern gegen einen israelischen Staatsbürger und die Leichen dreier israelischer Soldaten aus. Jetzt sollen innerhalb einer Woche zunächst 450 Häftlinge im Austausch mit Schalit freikommen. Die Übrigen sollen dann binnen zwei Monaten folgen.

(RP)
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