Südamerika Der stille Tod der Indianer

Bogotá · Lateinamerikas Ureinwohner sterben einen langsamen, qualvollen Tod – weil der Rest der Welt lieber Geld verdient, statt sich um den Schutz des Regenwalds zu kümmern. Das ist eine Schande für die Zivilisation.

 Wo, wenn nicht hier? Ein Mitglied des Stamms der Pataxo in Brasilien lebt im Regenwald.

Wo, wenn nicht hier? Ein Mitglied des Stamms der Pataxo in Brasilien lebt im Regenwald.

Foto: dpa

Die Gier der Welt frisst sich gnadenlos in die Lunge der Welt. Wie die Metastasen eines Krebsgeschwürs durchziehen riesige Wunden den Amazonas-Regenwald. Jeden Tag wird das für das Klima so wichtige Ökosystem weiter malträtiert. Dahinter stecken die Interessen verschiedenster Gruppen: Mal ist es der Hunger der Welt nach Kokain, nach Gold, nach Erdöl, Fleisch oder der Sojabohne. Mal sind es Staudämme, die den Territorien der Ureinwohner das lebenswichtige Wasser rauben, mal ist es der Bergbau, der mit Quecksilber die Flüsse und die Fische vergiftet. Mit jedem Tag wird der Lebensraum jener Völker kleiner, die dort einmal gelebt haben. Der stille Tod des Regenwaldes ist auch ein stiller Tod der Indigenen, also der Ureinwohner.

Vor Kurzem veröffentlichte die brasilianische Behörde für indigene Angelegenheiten Aufnahmen eines Mannes beim Holzfällen im Regenwald. Er sei wahrscheinlich der letzte Überlebende seines Volkes im brasilianischen Amazonas-Gebiet, hieß es. Menschenrechtler gehen davon aus, dass die übrigen Mitglieder von Viehzüchtern getötet wurden, die in den 70er und 80er Jahren in das Gebiet im Bundesstaat Rondônia vordrangen. Die Region gilt als Wilder Westen Brasiliens, wo Landkonflikte schnell mit der Waffe ausgetragen werden. Seit 22 Jahren ist der Mann wohl ganz auf sich allein gestellt – mit ihm stirbt sein Stamm aus.

Stephen Corry von der globalen Bewegung „Survival International“ für die Rechte indigener Völker nennt die Alternative: indigene Territorien. Sie schützen auch vor Entwaldung. Doch die Realität sieht anders aus: Selbst in Bolivien, dem Land mit dem ersten gewählten indigenen Präsidenten Lateinamerikas, in dessen Verfassung der Schutz der „Mutter Erde“ festgeschrieben ist, treibt Präsident Evo Morales eine Wirtschaftspolitik voran, die zulasten der Umwelt und der Indigenen geht. „Auf dem Boden indigener Bevölkerungsgruppen werden Wasserstaudämme gebaut, ohne sie zuvor zu befragen“, sagt Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck, zuständig für das kirchliche Hilfswerk Adveniat. Dies widerspreche einer Konvention der Arbeitsorganisation ILO der Vereinten Nationen, die Bolivien mit unterzeichnet hat und die eine Befragung der betroffenen Völker vorsehe.

In Brasilien wird die indigene Bevölkerung in viel zu kleinen Reservaten eingepfercht, weil die Agrarindustrie Platz für die Sojabohne braucht. Holzfäller dringen rücksichtslos in die Territorien unkontaktierter Völker ein. In Kolumbien werden indigene Menschenrechtsverteidiger ermordet, weil sie neoparamilitärische Banden und linke Guerillagruppen bei deren schmutzigem Geschäft mit der Drogenmafia und dem illegalen Bergbau stören. In Chile sitzen Mitglieder des Mapuche-Stamms im Gefängnis, abgeurteilt nach Terrorismusgesetzen aus der Zeit der Militärdiktatur. In Ecuador wehren sich Indigene verzweifelt gegen chinesische Konzerne, die in den ökologisch sensibelsten Regionen der Welt ihre Ölbohrer in den Boden rammen.

Die Indigenen würden von fast allen Seiten bedrängt, teils auch vom Staat, sagt die Gesellschaft für bedrohte Völker: „Wer trotzdem die Interessen seiner Gemeinschaft verteidigt, riskiert sein Leben.“ So sind 2017 allein in Guatemala 496 Bauernführer ermordet worden. Die meisten Opfer waren Indigene, die sich friedlich für Landrechte sowie gegen Großprojekte von Energie- und Bergbauunternehmen auf ihrem traditionellen Territorium eingesetzt hatten.

Was vor über 500 Jahren mit der Entdeckung Amerikas begann, setzt sich bis heute fort: Gnadenlos wird das Land der Indigenen geplündert. Waren es vor Jahrhunderten Galeonen, die das geraubte Gold Lateinamerikas nach Spanien brachten, sind es heute Konzerne und Kartelle, die Gold, Kohle, Öl, Kokain und Tropenholz versilbern. Als das Wrack der 1708 gesunkenen spanische Galeone „San José“ 2015 vor der kolumbianischen Karibikküste gefunden wurde, entbrannte tatsächlich ein Streit darüber, wem die dort vermuteten Gold- und Silberschätze gehören. Der Kolonialmacht Spanien oder dem ausgeraubten Kolumbien? Früher waren es die spanische und portugiesische Krone, heute verdienen das Geld China, Japan, Europa und die USA. Und ihre Handlanger: linke Guerilleros, rechte Paramilitärs und korrupte Politiker.

Schuld daran haben alle: jene, die sich bei Friedensmärschen fröhlich einen Joint anzünden oder in Werbeagenturen eine Linie Koks ziehen und damit die dunklen Mächte des Drogenhandels finanzieren – obwohl sie eigentlich wissen müssen, wie sie damit die Natur zugrunde richten. Banken und Börsen, die Profite über alles stellen und keine Ökobilanz ziehen. Die Industrie, die es nicht schafft, ökologische Alternativen zu finden, und so noch mehr Öl aus dem Boden der indigenen Territorien saugt.

Die Verlierer sitzen in den Fußgängerzonen von Bogotá, Rio de Janeiro, Santiago oder Quito. Bettelnd mit einem Baby im Arm, vielleicht mit ein bisschen Kunsthandwerk, das teils schon in China produziert wird. Andere schlagen sich als Touristenattraktion durch, eingesperrt in die Zwänge der westlichen Zivilisation, die sie nie um ihre Anwesenheit gebeten und deren brutale Massaker sie überlebt haben. Sie fliehen nicht, ganz im Gegenteil: Sie wollen nur ihr Land zurück, um es für den Rest der Zivilisation zu erhalten. Mit ihrem Siechtum geht dem Planeten auch ein ökologisches Wissen für immer verloren. Und während die Gesellschaft darüber streitet, welcher Sprachgebrauch der richtige ist, ob „Indigene“, „Indios“ oder „Indianer“, werden indigene Menschenrechtsverteidiger ermordet und die westliche Welt macht einfach weiter.

Vielen Indigenen bleibt nur ein Leben wie im Zoo: bestaunt, bemitleidet und schon wieder vergessen, wenn der SUV die Touristen zurück in die Hotels fährt. Was für ein Verlust für die sogenannte Zivilisation. (mit dpa)

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