Syrien Hunger als Waffe

Düsseldorf/Madaja · In der syrischen Stadt Madaja setzen Rebellen und Regime-Anhänger systematisch Aushungern ein, um Zivilisten und feindliche Soldaten zu demoralisieren. Es ist eine einfache, aber perfide Taktik, die in Kriegszeiten immer wieder angewendet wird.

 Ein Junge wartet in Madaja auf den Hilfskonvoi der Vereinten Nationen.

Ein Junge wartet in Madaja auf den Hilfskonvoi der Vereinten Nationen.

Foto: SOS-Kinderdörfer

Die Videos erzählen eine Geschichte aus der Hölle. Da ist die kleine Hana, sieben Monate alt. Mit weit geöffneten Augen liegt sie auf einer Decke, wedelt mit den Armen. Sie wirkt verwirrt. Unter ihrer Haut zeichnen sich ihre kleinen Knochen ab. Ein anderes Video zeigt einen alten verwahrlosten Mann, der mit nacktem Oberkörper in einer Hütte sitzt. Über einem Feuer köcheln Laubblätter in einem Topf. Und dann ist da noch ein Video, in dem die Kamera über einen leblosen Körper fährt. Es ist der eines Mannes - doch eine männliche Statur ist kaum noch erkennbar. Die Videos tragen Namen wie "Madaja Siege", "Belagerung Madajas".

Madaja, nordwestlich von Syriens Hauptstadt Damaskus nahe der Grenze zum Libanon, wird seit gut einem Jahr von Truppen des Assad-Regimes und seinen Gegnern belagert. Beide Seiten nutzen den Hunger als Waffe, um die Bevölkerung gefügig zu machen und die gegnerischen Truppen zu schwächen. Sie zerstören wichtige Transportlieferungen oder trocknen die Felder aus. Die Zivilisten im Dorf werden zu Geiseln. Seit Anfang Dezember sind nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen mindestens 28 Menschen verhungert, darunter sechs Kinder unter fünf Jahren.

Am Montag gelang es einem Hilfskonvoi, das schwer zugängliche Madaja zu erreichen. 50 Lkw der Vereinten Nationen (UN) brachten Nahrung und Medikamente, vor allem für Schwangere und Säuglinge. "Es gibt keinen Vergleich zu dem, was wir in Madaja gesehen haben", berichtete ein Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks in Damaskus am Dienstag. 400 Menschen waren nach UN-Angaben fast tot und mussten so schnell wie möglich aus der Stadt gebracht werden.

Schon im Juni 2015 hatte der UN-Menschenrechtsrat in einem Bericht zur Lage im Bürgerkriegsland Syrien darauf hingewiesen, dass alle Konfliktparteien in vielen Städten systematisches Aushungern als Kampfmethode einsetzen. Die Organisation World Vision International berichtete unter Berufung auf die UN, insgesamt benötigten rund 400.000 Menschen in Syrien dringend Lebensmittel, Trinkwasser und Medizin. Das gezielte Aushungern von Zivilisten gilt völkerrechtlich als Kriegsverbrechen; auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon nannte es gestern so.

Hunger als Waffe zu benutzen, ist für die jeweilige Kriegspartei ein einfaches Mittel, den Gegner zu demoralisieren und zu dezimieren. Es ist einfacher, eine Stadt oder eine Festung von der umliegenden Region abzuschneiden, als sie unter hohen Verlusten einzunehmen. Denn der Hunger treibt Menschen nicht nur körperlich zur Kapitulation, sondern auch seelisch. Es ist ein grauenvoller Anblick: Ohne die Zufuhr lebenswichtiger Proteine und Kohlenhydrate versagen allmählich die Zellen und somit die Organe. Ödeme und eine gestörte Wundheilung verwandeln den Körper in ein Schlachtfeld. Haare und Nägel fallen aus, die Haut wird blass. Während die Arme nur so breit wie Fahrradschläuche sind, bläht sich der Bauch durch eine Wasseransammlung auf, wie es beim Proteinmangel "Marasmus" vor allem bei Kindern zu beobachten ist.

Seit es Kriege gibt, wird die "Taktik der verbrannten Erde" immer wieder eingesetzt. Schon Gaius Julius Cäsar verhalf sich durch das gezielte Aushungern seines Gegners zum Sieg. In der Schlacht um Alesia, im Spätsommer 52 v. Chr., verfolgte Cäsar den fliehenden gallisch-keltischen Fürsten Vercingetorix. In Alesia in der heutigen französischen Region Burgund schloss Cäsar seinen Widersacher ein und belagerte die Stadt. Schon nach 30 Tagen waren die feindlichen Truppen so ausgehungert, dass das römische Heer über sie herfallen konnte.

Selbst im zurückliegenden Jahrhundert finden sich viele Beispiele für derartige Kriegsverbrechen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 hatte Großbritannien Deutschland mit einem Handelsembargo belegt. Die Briten richteten eine verheerende Seeblockade ein. In der Folge, besonders im verheerenden "Steckrübenwinter" 1916/17, starben in Deutschland 800.000 Menschen an Hunger oder seinen Folgen.

1932 sah der sowjetische Diktator Josef Stalin sein Reich durch den Freiheitswillen der Ukrainer bedroht. Um das ukrainische Volk zu unterdrücken, verhängte Stalin "Naturalienstrafen". Aufbegehrende Bauern mussten Abgaben leisten, Seife und Kerosin wurden konfisziert. Viele Ukrainer landeten bettelnd auf der Straße. Wie viele Menschen starben, ist nicht genau belegt: Die Schätzungen reichen von 3,5 bis 7,5 Millionen.

Fast zehn Jahre später war es derweil Stalin, der durch die Blockade Leningrads durch die Wehrmacht mit einer Hungersnot im eigenen Land konfrontiert wurde. Adolf Hitler sah damals bewusst davon ab, Leningrad einzunehmen. Stattdessen war der Hungertod aller Einwohner eingeplant. Mehr als eine Million Menschen starben.

In Nigeria kam es zwischen 1967 und 1970 im Zuge des Biafra-Krieges zu einer Hungersnot. Die Einheimischen des Gebiets Biafra im Südosten des Landes wollten sich von der Bundesrepublik Nigeria trennen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Die nigerianische Regierung verhängte daraufhin eine Hungerblockade über Biafra und beging so einen Völkermord. Bis zu zwei Millionen Menschen, überwiegend Kinder, sollen ums Leben gekommen sein.

Und nun Syrien.

Dem dort ansässigen Pendant zum Roten Kreuz, dem Syrischen Halbmond, zufolge reicht die Hilfslieferung von Anfang der Woche aus, um die bis zu 40.000 Menschen in der westsyrischen Stadt 40 Tage lang zu versorgen. Ein weiterer Hilfskonvoi kam gestern in Madaja an - eine Linderung der Not für den Augenblick. Wie es aber mittelfristig weitergehen soll, das weiß niemand.

(jaco)
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