Bandengewalt Wie sich das Chaos in Haiti auf die Bevölkerung auswirkt

Port-au-Prince · Nach dem Mord an Präsident Jovenel Moïse destabilisieren bewaffnete Banden Haiti und könnten die für den Herbst geplanten Wahlen zum Scheitern bringen. Tausende sind auf der Flucht im eigenen Land.

 Obdachlose Haitianer essen in einem Flüchtlingsheim in Port-au-Prince, nachdem bewaffnete Banden ihre Häuser niedergebrannt haben.

Obdachlose Haitianer essen in einem Flüchtlingsheim in Port-au-Prince, nachdem bewaffnete Banden ihre Häuser niedergebrannt haben.

Foto: AP/Joseph Odelyn

Haitis Banden werden schon lange von mächtigen Politikern und ihren Verbündeten finanziert – nun befürchten viele Haitianer, dass die Geldgeber die Kontrolle über die erstarkenden bewaffneten Gruppen verlieren. In den vergangenen Wochen wurden Tausende Haitianer durch Revierkämpfe, Morde und Plünderungen von den Banden aus ihren Unterkünften vertrieben.

Die Eskalation der Bandengewalt droht die Karibikrepublik nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse in der vergangenen Woche weiter zu destabilisieren. Die Regierung stürzt ins Chaos: Es gibt kein Parlament mehr, keinen Präsidenten, einen umstrittenen Regierungschef und eine schwache Polizei. Doch die Banden scheinen organisierter und mächtiger denn je.

Zwar konzentrierte sich die Gewalt auf die Hauptstadt Port-au-Prince, doch hatte sie Auswirkungen auf ganz Haiti: Sie legte die fragile Wirtschaft lahm, führte zur Schließung der Schulen, überforderte die Polizei und störte den Kampf gegen die Corona-Pandemie. „Das Land hat sich in eine riesige Wüste verwandelt, in der uns wilde Tiere verschlingen“, hieß es in einer Erklärung der Haitianischen Konferenz der Religiösen (CHR). „Wir sind Flüchtlinge und Exilanten in unserem eigenen Land.“

Vor kurzem stahlen Banden Zehntausende Säcke mit Zucker, Reis und Mehl, plünderten und setzten Häuser in der Hauptstadt in Brand. Tausende Menschen suchten daraufhin Zuflucht in Kirchen, auf Feldern im Freien und in einer großen Sporthalle, wo die Regierung und internationale Geldgeber versuchen, sie mit Essen zu versorgen und langfristige Unterkünfte zu finden. Darunter sind auch Dutzende Versehrte des Erdbebens von 2010, die im Juni aus ihrem Lager fliehen mussten, nachdem Banden es in Brand gesetzt hatten.

„Ich rannte um mein Leben an diesen Krücken“, sagt der 44-jährige Obas Woylky, der bei dem Erdbeben ein Bein verlor. „Aus verschiedenen Richtungen flogen Kugeln… Alles, was ich sehen konnte, waren Brände in den Unterkünften.“ Er war einer von mehr als 350 Menschen, die in einer zur Notunterkunft umfunktionierten Schule ausharrten. Mundschutz trug dort kaum jemand.

Experten zufolge sind die Gewaltausbrüche die schlimmsten seit zwei Jahrzehnten – 2004 war eine zweite Friedensmission der Vereinten Nationen nach Haiti entsandt worden. Programme zur Eindämmung der Bandenkriminalität und ein Zustrom von Hilfsgeldern nach dem Erdbeben 2010 halfen, doch als das Geld versiegte und Hilfsprogramme ausliefen, begannen die Banden mit Entführungen und der Schutzgelderpressung von Läden und Vierteln, die sie unter ihrer Kontrolle hatten.

Die Banden werden teilweise von einflussreichen Politikern finanziert - eine Praxis, die vor kurzem sogar einer ihrer mutmaßlichen Nutznießer anprangerte: Jimmy Cherizier ist Ex-Polizist und Anführer der Bandenkoalition G9 Family and Allies. Er beklagte sich, das Land werde von gewissen Leuten als Geisel genommen: „Sie herrschen überall, verteilen Waffen in den dicht besiedelten Vierteln und spielen die Karte der Spaltung, um ihre Vorherrschaft auszubauen.“

Cherizier wird mit mehreren Massakern in Verbindung gebracht und gilt als Verbündeter der rechten Partei von Moïse. Er kritisierte die „Bourgeois“ und „Ausbeuter“: „Wir werden unsere Waffen gegen sie einsetzen, zugunsten des haitianischen Volkes. Wir sind bereit für den Krieg!“ Bei einer Pressekonferenz am Samstag nannte Cherizier den Mord an Moïse „feige und niederträchtig“.

Gleichzeitig warnte er: „Wir empfehlen allen, die versuchen, diesen Putsch auszunutzen, sorgfältig nachzudenken, ob sie die angemessene Lösung für die Probleme des Landes parat haben.“ Zusammen mit anderen werde er Gerechtigkeit einfordern für Moïse: „Wir laufen uns gerade warm.“ Die G9 ist eine von mindestens 30 Banden, die nach Einschätzung der Behörden fast die Hälfte von Port-au-Prince kontrollieren. Eine andere heißt „5 Seconds“ — so lange brauchen die Mitglieder angeblich, um ein Verbrechen zu begehen, eine andere „400 Mawozo“ — was mit „400 lahme Männer“ übersetzt werden kann.

Das Epizentrum der jüngsten Bandengewalt ist Martissant, ein Viertel im Süden von Port-au-Prince, dessen Hauptstraße die Hauptstadt mit dem Süden Haitis verbindet. Die Angst der Fahrer, in einen Schusswechsel oder Schlimmeres zu geraten, legte nach einem Bericht des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten die Handelsverbindungen zwischen den Regionen fast lahm, was die Preise in die Höhe treibt, den Transport von Lebensmitteln und Treibstoff verzögert und internationale Organisationen zwingt, Programme abzubrechen, darunter die Verteilung von Bargeld an mehr als 30 000 Menschen.

Den Angaben zufolge brauchen mehr als eine Million Einwohner Schutz und sofortige humanitäre Hilfe. „Täglich suchen neu vertriebene Menschen Zuflucht in Notunterkünften mit entsetzlichen hygienischen Bedingungen“ heißt es da. Die Behörden befürchten einen Anstieg der Covid-19-Fälle in dem Land.

Der Zustand der Wirtschaft ist nicht besser: Nach UN-Angaben stieg der Verbraucherindex von Februar bis Mai um 13 Prozent, während ausländische Direktinvestitionen von 2018 bis 2020 um mehr als 70 Prozent abnahmen – von 105 Millionen Dollar (88 Millionen Euro) auf 30 Millionen Dollar. Das führt zu weniger Arbeitsplätzen und zunehmender Armut in einem Land, in dem 60 Prozent der Bevölkerung weniger als zwei Dollar am Tag und 25 Prozent weniger als ein Dollar am Tag verdienen.

Viele befürchten auch, dass die Banden die für September und November geplanten Wahlen zum Scheitern bringen könnten, die entscheidend sind für die Wiederherstellung einer funktionierenden Legislative und Exekutive.

Der für Wahlen zuständige Minister des Landes Mathias Pierre sagte am Samstag, die Hintermänner der Banden könnten die Störung der Wahlen zum Ziel haben. Dies werde jedoch nicht funktionieren, schließlich hätten Länder sogar während Kriegen Wahlen abgehalten: „Wir müssen Wahlen organisieren. Sie müssen sich zurückziehen.“

Haitis Büro zum Schutz der Bürger forderte die internationale Gemeinschaft auf, die Nationalpolizei zu unterstützen, die unfähig sei, der „Gangsterisierung des Landes wirksam zu begegnen“. Aus Geldmangel habe die Regierung die USA und die UN um die Entsendung von Truppen gebeten, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, betonte Pierre: „Wir haben die Verantwortung, Chaos zu verhindern.“ Die haitianische Polizei hat nach Behördenangaben rund 9000 einsatzfähige Beamte in einem Land mit mehr als elf Millionen Menschen. Experten zufolge werden mindestens 30 000 Polizisten benötigt.

Gleichzeitig suchen die Behörden Lösungen für die Menschen, die vor der Gewalt der Banden aus ihren Unterkünften flüchteten, wie Marjorie Benoit mit ihrem Mann und drei Kindern. Die 43-Jährige hatte in dem Erdbeben vor elf Jahren einen Arm verloren und floh nun vor Schießereien aus ihrem Viertel. Die Familie steht vor dem Nichts: „Wir sind entwurzelt worden“, sagt Benoit. „Und wir wissen nicht, wo wir anfangen sollen.“

(peng/dpa)
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