Experten sehen Muster Giftgas in Syrien — Assad will den Westen testen

Beirut · Die Welt diskutiert über Giftgaseinsätze im Bürgerkriegsland Syrien. Sind diese Waffen zum Einsatz gekommen und wenn ja, wer hat sie warum eingesetzt? Experten glauben ein Muster erkannt zu haben und vermuten, dass Syriens Machthaber austestet, wie weit er gehen kann, ohne dass der Westen einschreitet.

Wenn es tatsächlich in Syrien zum Einsatz von Chemiewaffen gekommen ist, waren die Angriffe laut US-Erkenntnissen sehr begrenzt. Das heißt, es war nichts im Vergleich zur Attacke des damaligen irakischen Diktators Saddam Hussein 1988 auf die irakischen Kurden. Damals hatten Tausende ihr Leben verloren. Und daraus ergibt sich die Frage: Was könnte das Motiv hinter den kleinen Einsätzen sein, die offensichtlich militärisch wenig bringen? Wer würde davon am meisten profitieren? Bis jetzt beschuldigen sich das Regime von Baschar al-Assad und die Opposition gegenseitig, feste Beweise fehlen.

Experten sagen, dass die Antwort in der Vergangenheit liegen könnte. Die Regierung habe bereits früher eine Strategie der stufenweisen Waffeneinsätze verfolgt - mit dem Ziel, die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft zu testen.

Nach US-Angaben deuten geheimdienstliche Erkenntnisse darauf hin, dass im derzeitigen Konflikt zumindest in zwei Fällen das tödliche Nervengas Sarin eingesetzt wurde. Das deckt sich mit israelischen, britischen und französischen Einschätzungen.

Die syrischen Rebellen beschuldigen Assads Militär, viermal mit Chemiewaffen angegriffen zu haben. Die Regierung weist das zurück und schreibt die Angriffe öffentlich den Aufständischen zu. Aber mit Giftgas-Einsätzen eine Intervention aus dem Ausland provozieren zu wollen, wäre eine riskante Strategie für die Opposition, sagen Experten. Das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Rebellen würden ohne Zweifel international schwer beschädigt. Ganz abgesehen davon wäre es für die Opposition technisch schwierig, Giftgas einzusetzen - dazu seien geeignete Trägersysteme nötig, erklärt Mustafa Alani vom Golf-Forschungszentrum in Genf.

US-Präsident Barack Obama hat gesagt, dass jeder Einsatz von Chemiewaffen das Überschreiten einer "roten Linie" bedeuten würde und in einem solchen Fall "enorme Konsequenzen" drohten. Seit das Weiße Haus mitgeteilt hat, dass offenbar Giftgas verwendet wurde, ist der Druck auf ihn gewachsen, kraftvoll zu reagieren. Aber bisher hat Obama eher versucht, Erwartungen hinsichtlich einer raschen US-Antwort zu dämpfen.

Experten zufolge liegt nahe, dass die syrische Regierung mit dem begrenzten Giftgas-Einsatz herausfinden will, wie entschlossen Obama und die internationale Gemeinschaft tatsächlich zum Handeln ist. Dass sich die Einsätze schwer nachweisen ließen, gebe dem Regime zugleich die Möglichkeit, sie plausibel zu leugnen. Eine solche Strategie würde ausländischen Mächten, die eine kostspielige Intervention scheuten, Untätigkeit erlauben - und zugleich der syrischen Regierung Tür für weitere Chemiewaffeneinsätze öffnen. "Wer einmal schweigt, wird auch ein zweites Mal schweigen", beschreibt Alani das mögliche Kalkül in Damaskus.

Es wäre nicht das erste Mal seit Beginn des Konflikts im März 2011, dass Syrien den Waffeneinsatz langsam eskalieren lässt, um das Ausland auf die Probe zu stellen. So verweist der syrische Experte Joseph Holliday vom Institut für Kriegsstudien in Washington darauf, dass das Regime den weitgehend friedlichen Protesten zu Beginn mit Handfeuerwaffen und einer Welle von Festnahme begegnet sei. Dann sei es immer radikaler vorgegangen, die Opposition habe sich als Konsequenz Ende 2011 bewaffnet und damit eine weitere Eskalation der Gewaltanwendung des Assad-Militärs bewirkt.

Anfang 2012 hätten die Regierungstruppen mit dem Einsatz schwerer Waffen begonnen, zunächst aber relativ begrenzt, mit militärischen Zielen im Visier. "Als sich dann bestätigte, dass keine größere Reaktion des Westens zu erwarten war, konnten sie ihren Artillerieeinsatz ausweiten", sagt Holliday. Und so sei es weitergegangen, mit Panzern, Kanonen und Granaten, dann mit immer schwereren Luftwaffeneinsätzen, nachdem klar gewesen sei, dass der Westen anders als seinerzeit in Libyen keine Flugverbotszone in Syrien erzwingen würde.

"Das alles entspricht dem Muster eines stufenweisen Vorgehens", sagt Holliday. Assads Ziel sei es sicherzustellen, dass keine "roten Linien" überschritten würden. Der Präsident habe vor allem die USA auf die Probe gestellt, "es hat sich bestätigt, dass es funktioniert, und jetzt versucht er es wieder mit Chemiewaffen".

AP enw gab w4 tjk

(ap/felt)
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