Kaum Geld für Camps im Nahen Osten Zielstrebig in die nächste Flüchtlingskrise

Düsseldorf · Die Flüchtlingscamps rund um Syrien sind so unterfinanziert wie eh und je. Warnungen vor einer Wiederholung der Flüchtlingskrise im Jahr 2016 verhallen bisher ohne nennenswerte Resonanz. Haben wir denn nichts dazugelernt?

 Ein syrischer Junge in einem türkischen Flüchtlingslager.

Ein syrischer Junge in einem türkischen Flüchtlingslager.

Foto: afp, am/AMD

Der Vorwurf, dass Regierungen erst dann ein Problem angehen, wenn es nicht mehr zu ignorieren ist, ist nicht eben neu. Doch blickt man auf die Entwicklung der Flüchtlingskrise, hat er von seiner Berechtigung nichts eingebüßt.

So lange die Menschen Zuflucht in den Camps rund um das Kriegsgebiet suchten, so lange das Mittelmeer sie von Europa abhielt, begrenzte sich die Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema auf kurzzeitige Erregungswellen. Da mochten Menschenrechts-Aktivisten oder Behörden noch so warnen. Erst als Tausende die bayerischen Grenzen erreichten, reagierten Öffentlichkeit, Politik und Behörden. Deutschland fand sich in einer Krise historischen Ausmaßes wieder, die die EU zu zerreißen droht und die Kanzlerin zu Fall bringen könnte.

Fluchtursachen selbst geschaffen

Über die Gründe für den Entschluss der Hunderttausenden, Leib und Leben zu riskieren und nach Deutschland zu kommen, ist viel gestritten worden. Dass Merkel die Flüchtlinge mit Selfies und Willkommensgesten eingeladen habe, sagen ihre Kritiker. Dass die Flüchtlinge sowieso gekommen wären, andere. "Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen", heißt es parteiübergreifend auf der Suche nach Lösungen.

Sicher ist: Maßgeblich verantwortlich für ihre Lage sind die Regierungen selbst. Schon seit langem warnten UN und Flüchtlingshelfer vor katastrophalen Zuständen in den Flüchtlingscamps rund um die Krisengebiete. Dennoch blieben die Lager chronisch unterfinanziert. Die Kürzung der Lebensmittelrationen in den Lagern in der Türkei, Jordanien und dem Libanon gilt als einer der wesentlichen Gründe dafür, dass 2015 so viele Flüchtlinge in die EU und vor allem nach Deutschland kamen. Weil sie dort weder menschenwürdige Bedingungen noch Perspektiven für ein Leben fanden, machten sie sich in ihrer Suche nach Alternativen auf den Weg.

Die Zahlen klingen ernüchternd

Wer aber nun glaubt, die Welt hätte daraus gelernt und würde aus purem Eigeninteresse die Flüchtlingslager im Libanon, Jordanien oder der Türkei mit allem ausstatten, was benötigt wird, sieht sich getäuscht. Noch immer klagen das Welternährungsprogramm (WFP) und das UN-Flüchtlingswerk, dass in erheblichem Maße das Geld fehlt. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sprach am Mittwoch von einem "Skandal", Kanzlerin Merkel warnte Anfang Dezember vor neuen Flüchtlingsschüben im Jahr 2016.

Die jüngsten Zahlen, sie stammen vom 8. Dezember, klingen ernüchternd: Das WFP hat einen Deckungsgrad bei den nötigen Zahlungen für Syrien-Flüchtlinge von 58 Prozent gemeldet. Beim UNHCR liegt er bei 54 Prozent für 2015. Und im kommenden Jahr droht eine ähnliche Entwicklung: Laut WFP fehlen bis Ende Mai Zusagen der internationalen Staatengemeinschaft von 390 Millionen Dollar.

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Die Staaten zahlen freiwillig

Fragt sich, wer für die chronische Unterfinanzierung eigentlich verantwortlich ist. Darauf eine Antwort zu geben, ist jedoch gar nicht so einfach. Fakt ist: UNHCR und WFP besitzen keine festen Etats. Sie sind angewiesen auf freiwillige Beiträge der Mitgliedstaaten. In der Bundesregierung macht man für den Geldmangel 2015 eine Mischung aus Machtlosigkeit der UN-Behörden sowie fehlende Solidarität vieler Staaten verantwortlich.

Hinzu kommt, dass die Dimension der Krise erst in der zweiten Jahreshälfte erkannt wurde. Auch die deutsche Politik schraubte den eigenen Etat erst drastisch nach oben, als Deutschland von der Krise voll erfasst wurde. Andere Staaten reagierten noch langsamer.

Schaut man sich die Liste der Geber 2015 an, dann gibt es einige vorbildliche Länder: dazu gehören etwa die USA, Großbritannien, die EU als Ganzes, Deutschland und auch Kuwait. Die USA und Deutschland haben danach zusammen 50 Prozent der WFP-Summe für die Betreuung der syrischen Flüchtlinge in der Region beigesteuert - insgesamt rund 400 Millionen Euro.

Geberkonferenz in London

Dennoch sieht CSU-Chef Horst Seehofer eine Hauptverantwortung für die Bewältigung der Flüchtlingskrise gerade bei den USA: "Man muss schon einmal daran erinnern, dass die Vereinigten Staaten für vieles, was derzeit in der Welt stattfindet, die eigentlichen Ursachen gelegt haben", kritisierte er auf dem CDU-Landesparteitag in Thüringen.

Ob die Welt besser aussähe, würden Diktatoren wie Saddam Hussein oder Gaddafi noch leben, darüber lässt sich streiten. Dringender aber sind die Erfordernisse für die nahe Zukunft: Wieder eine Million Flüchtlinge — das soll sich 2016 nicht wiederholen.

Anfang Februar soll es deshalb in London eine Geberkonferenz geben, zu der die Bundeskanzlerin, der britische Premierminister, die norwegische Premierministerin und der kuwaitische Emir eingeladen haben. Ziel sei es, "die Welt noch einmal wachzurütteln", sagt Merkel.

Millionen in Lagern an der syrischen Grenze

Das wird auch nötig sein, denn es braucht Geld, viel Geld. In der Bundesregierung und der EU ist man sicher, dass sich die Lage in den Flüchtlingslagern in Jordanien und Libanon bei den Nahrungsmitteln, der Unterkunft und etwa dem Schulbesuch für Kinder so verbessern muss, dass die Flüchtlinge nicht mehr daran denken, in die EU weiterzureisen. Um das zu leisten, plant das WFP künftig wieder mit dem vollen Versorgungssatz von 27 bis 28 Dollar pro Person und Monat.

Schon heute versorgt das Programm vier Millionen Flüchtlinge in Syrien und 1,4 Millionen in den Nachbarländern. Die Zahlen von Amnesty International klingen noch drastischer: Demnach halten sich aktuell allein in der Türkei 2,2 Millionen Syrer auf. Die Perspektiven verschärfen die Not: Sollten sich die Kampfhandlungen in Syrien verschärfen, dürfte die Zahl der Flüchtlinge weiter steigen. Nach Entspannung sieht es im Kampfgebiet nicht aus. Erst an diesem Mittwoch sind die beiden ersten Tornados der Bundeswehr in Richtung Syrien gestartet.

Längst hat angesichts solcher Aussichten die nächste schwierige Debatte über die Lastenverteilung innerhalb der EU begonnen: Nach dem jüngst geschlossenen Abkommen sollen der Türkei zusätzlich drei Milliarden Euro für eine bessere Versorgung der meist gar nicht in Lagern untergebrachten syrischen Flüchtlinge gezahlt werden. Wieder ist europäische Solidarität gefragt. Und wieder stößt die Gemeinschaft an ihre Grenzen. Nicht alle 28 EU-Staaten wollen ihren Beitrag leisten. In Berlin wird bereits damit gerechnet, dass Deutschland möglicherweise auch hier einen überproportionalen Teil übernehmen muss.

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(pst/REU/dpa/AP)
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