Explosion im Libanon Der Weg in die Katastrophe von Beirut

Beirut · Die verheerende Explosion in der libanesischen Hauptstadt mit mehr als hundert Toten und Tausenden Verletzten hat eine Vorgeschichte. Sie beginnt sieben Jahre zuvor im Hafen von Batumi in Georgien – und sie liest sich wie ein Krimi.

 Ein Schiff brennt vor den rauchenden Trümmern, die die gewaltige Explosion im Hafen von Beirut hinterlassen hat.

Ein Schiff brennt vor den rauchenden Trümmern, die die gewaltige Explosion im Hafen von Beirut hinterlassen hat.

Foto: AFP/-

Als die Explosion den Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut am 4. August verwüstete, war die Druckwelle noch auf der 240 Kilometer entfernten Mittelmeerinsel Zypern zu spüren. „Ich musste sofort an Mari denken“, sagt Milad Papajorgu, ein Rentner in der zypri­schen Hafenstadt Larnaka. Wie viele Zyprioten fühlte er sich an den Juli 2011 erinnert, als ein Munitionslager im Dorf Mari an der Südküste Zyperns explodierte. Die Detonation zerstörte das größte Kraftwerk der Insel und tötete 15 Menschen. Das Unglück zählt wie das von Beirut zu den stärksten nicht-nuklearen Explosionen der Menschheitsgeschichte.

Auf der zyprischen Marinebasis in Mari lagerte seit Jahren beschlagnahmte Munition, die wie die Explosivstoffe in Beirut nach Ausbruch eines Feuers in die Luft flog. In beiden Fällen spielten russische Schiffe sowie mögliche Verbindungen zur islamistischen Miliz Hisbollah im Libanon eine Rolle. Und auch bei der Katastrophe von Beirut führt die Spur nach Zypern – zu einem Milieu windiger Geschäftsleute, Offshorefirmen und maroder Schiffe.

Igor Gretschuschkin, ein heute 43-jähriger russischer Geschäftsmann, lebt seit 2011 in der zyprischen Hafenstadt Limassol. Ihm gehörte das 26 Jahre alte Frachtschiff „Rhosus“, mit dem das leicht entzündliche Ammoniumnitrat nach Beirut kam. Laut zyprischem Innenministerium ist er aber kein Staatsbürger der Inselrepublik.

Gretschuschkin spricht nicht mit der Presse. Doch Informationen aus Medien und polizeilichen Ermittlungen erlauben eine Rekonstruktion der Vorgeschichte der Katastrophe von Beirut. Sie beginnt im Mai 2012, als Gretschuschkin vom zypriotischen Reeder Karalambos Manoli, dessen Büros neben seinen in Limassol lagen, den Seelenverkäufer „Rhosus“ über eine in Panama und Bulgarien eingetragene Firma erwarb. Recherchen der Schiffsnachrichten-Publikation Tradeswinds ergaben aber, dass er damit nicht Eigentümer des Schiffs wurde, sondern dass als solcher noch immer Manolis Firma in Bulgarien registriert ist. Manoli scheint das Schiff also nur an Gretschuschkin verchartert zu haben.

Manoli half seinem Nachbarn auch beim Aufbau einer Firmenstruktur zum Betrieb der „Rhosus“. Dafür gründete Gretschuschkin zunächst eine Firma im pazifischen Steuerparadies Marschallinseln, das ein „Billigflaggenland“ ist. Trotzdem wählte Gretschuschkin mit Moldawien ein anderes Billigflaggenland, um die „Rhosus“ zu registrieren.

Moldawien steht auf der sogenannten schwarzen Liste der „Hochrisikostaaten“ der internationalen Marineorganisation „Paris MoU“. Zur Verschachtelung und Verschleierung der Besitzverhältnisse sagt der Kapitän und Seerechtsexperte Hendrik Jungen von der Universität Bremen: „Ich würde aus der Konstellation schließen, dass der Reeder versucht hat, sich so abzusichern, dass er nie belangt werden kann, falls etwas schiefläuft.“

Die letzte Fahrt der „Rhosus“ begann im Hafen von Batumi in Georgien. Dort übernahm sie am 27. September 2013 von der Chemiefirma Rustavi Azot 2750 Tonnen hochkonzentriertes Ammoniumnitrat zur Sprengstoffherstellung, mit einem Marktwert von damals rund 700.000 US-Dollar. Zielort war Mosambik im Süden Afrikas, Käufer die International Bank of Mozambique für die Sprengstofffirma „Fabrica de Explosivos de Mocambique“. Laut Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters sollte die Ladung bei Lieferung bezahlt werden.

Ob die „Rhosus“ jemals hätte Mosambik erreichen können, ist zweifelhaft, denn das Schiff war kaum noch seetüchtig. Wie Reuters recherchierte, war es bereits vier Monate vor dem Andocken in Beirut wegen diverser Mängel wie „defekter Hilfsmotoren“ in Spanien festgesetzt worden. Doch nach Einbau eines geliehenen Hilfsmotors bescheinigte eine auf Karalambos Manoli in Georgien registrierte Inspektionsfirma der „Rhosus“ wieder Seetüchtigkeit.

Nachdem die „Rhosus“ ihre Fracht in Georgien abgeholt hatte, musste sie einen Hafen bei Istanbul anlaufen, weil die Besatzung wegen nicht bezahlter Löhne meuterte. Gretschuschkin heuerte nun einen neuen Kapitän, den Russen Boris Prokoschjew, mitsamt neunköpfiger russisch-ukrainischer Crew an. Nachdem der 70-jährige Meeresveteran das Schiff übernommen hatte, sorgte er sich um ein Leck im Vorschiff, weniger um das Ammoniumnitrat. „Die Fracht war gefährlich, aber nicht so gefährlich, dass sie nicht transportiert werden konnte“, sagte Prokoschjew der Londoner Times.

Dem widerspricht Olga Ananina, russische Inspektorin bei der internationalen Seeleutegewerkschaft ITW, die den Fall damals überprüfte. „Dies war ein minderwertiges Schiff mit schlechter Wartung und einem unseriösen Eigner“, sagte sie dem russischen Nachrichtenportal RT. „Es war ein großes Risiko mit einem solchen Schiff Gefahrengut zu befördern.“

Für die Finanzierung habe Gretschuschkin nach zusätzlicher Fracht gesucht, erzählt der Kapitän – mit Erfolg. Die „Rhosus“ sollte nun in Beirut Straßenbaumaschinen laden und in den jordanischen Hafen Akaba am Roten Meer bringen, bevor sie weiterfuhr. Am 21. November legte sie in Beirut an, aber die neue Fracht erwies sich als zu schwer.

„Ich weigerte mich, die Ladung aufzunehmen, denn sie hätte das Schiff zum Kentern bringen können“, berichtete Prokoschjew. Daraufhin habe Gretschuschkin ihn nach Zypern beordert. „Aber die libanesischen Beamten gaben das Schiff nicht frei und erklärten es für seeuntüchtig, bis Gretschuschkin die Hafengebühren und eine Geldstrafe bezahlt hatte.“

Jetzt multiplizierten sich die Probleme. Da er zahlungsunfähig war, entschied Gretschuschkin laut Kapitän Prokoschjew, das Schiff und die Besatzung ihrem Schicksal zu überlassen – und war fortan nicht mehr erreichbar. Er meldete aber umgehend auf den Marschallinseln Insolvenz an, und die moldawische Marinebehörde strich die „Rhosus“ aus dem Schifffahrtsregister.

Als ihn die zyprische Polizei nach der Explosionskatastrophe verhörte, gab Gretschuschkin an, er habe den Schiffsbetrieb aufgegeben, da die Libanesen seine Ladung als gefährlich deklariert und bestimmte Dokumente gefehlt hätten. Er hätte Rechnungen von mehr als 100.000 US-Dollar begleichen sollen.

„Dass Schiffe aufgegeben werden, kommt gar nicht so selten vor“, sagt dazu der Bremer Nautiker Hendrik Jungen – um beispielsweise geschuldete Löhne nicht zu zahlen. Seltsam nur: Weder die Absender noch die Empfänger des Ammoniumnitrats traten als Gläubiger auf oder bemühten sich um ihr mutmaßliches Eigentum. „Ich könnte mir vorstellen, dass aus Kostengründen keiner das Schiff mehr haben wollte“, spekuliert Experte Jungen.

Wie das internationale journalistische Recherchenetzwerk OCCRP herausfand, veranlasste eine Mittelsfirma in London für den georgischen Verkäufer 2015 eine Qualitätsprüfung des Ammoniumnitrats. Laut Gutachten waren die meisten Säcke zerrissen, ihr Inhalt quoll heraus. So wurde der explosive Stoff zum Niemandsgut.

Der Kapitän und drei ukrainische Seeleute wurden zehn Monate lang von der libanesischen Justiz an Bord festgesetzt. Wie Kapitän Prokoschjew erklärte, hätten libanesische Hafenbeamte der Crew zwar Essen gebracht, sich aber nie um die gefährliche Fracht gesorgt. „Ihnen ging es immer nur um das geschuldete Geld“, sagte er der Moskauer Zeitung „Iswestija“. In seiner Not verkaufte er Treibstoff, um im Frühjahr 2014 die Beiruter Anwaltskanzlei Baroudi & Partners zu engagieren.

Die Anwälte warnten die libanesischen Behörden umgehend, der Frachter „jeden Moment sinken oder in die Luft zu fliegen“. Sie erreichten, dass ein Beiruter Richter im August 2014 die Freilassung der Restbesatzung anordnete. Die „Rhosus“ sank schließlich im Februar 2018 im Hafenbecken.

Nun waren allein die libanesischen Behörden für die brisante Fracht verantwortlich, die sie fast ein Jahr nach der Ankunft im Hafen in den nicht weit entfernten Hangar 12 brachten. Bis 2017 baten Zollbeamte die Behörden mindestens acht Mal dringend darum, die Entsorgung des „hochgefährlichen“ Ammoniumnitrats anzuordnen. Vergeblich. Drei Wochen vor der Katastrophe leiteten Beamte einen Untersuchungsbericht mit der Warnung, dass eine Tür des Lagers fehle und die Gefahrenquelle „ganz Beirut in die Luft jagen“ könne, dem Staatspräsidenten Michel Aoun und dem Premierminister Hassan Diab zu. Sie stießen auf taube Ohren.

Seit der Explosion haben alle Verantwortlichen die Schuld anderen zugeschoben. Im Libanon kursiert die Vermutung, dass die Hisbollah ein Auge auf das Lager geworfen hatte. Zwar hat Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah jede Verbindung zu dem brisanten Stoff im Hangar 12 bestritten. Doch erscheint es nicht unmöglich, dass er das Lager als Geschenk des Himmels betrachtete. Da aber alle Welt davon wusste, wusste es auch der israelische Geheimdienst Mossad, Todfeind der Hisbollah. Das machte es schwierig, große Mengen abzuzweigen.

Auch im zyprischen Parallelfall von 2011 hatten Fachleute mehrfach ergebnislos vor der Explosionsgefahr gewarnt. Damals wurde die Munition ebenfalls auf einem russischen Frachter beschlagnahmt und war offiziell für Syrien, inoffiziell für die Hisbollah bestimmt. Dies wurde oft als Grund dafür genannt, dass die damalige prosyrische Regierung in Nikosia die Explosivstoffe nicht vernichten ließ. Ist in Beirut Ähnliches geschehen?

Möglich wäre es. Doch dürfte es fast ausgeschlossen sein, dass die Hisbollah auch der eigentliche Empfänger des Ammoniumnitrats war. Dagegen sprechen vor allem die gut dokumentierten Geldprobleme Gretschuschkins, der die „Rhosus“ ursprünglich gar nicht nach Beirut schicken wollte, der absurde Versuch, schwere Straßenbaumaschinen in Beirut zu laden und Gretschuschkins Befehl an den Kapitän, umgehend nach Zypern zu fahren.

Die libanesischen Strafverfolger konzentrieren sich inzwischen wieder auf eine mögliche Schuld von Igor Gretschuschkin. Nach Angaben des Innenministeriums in Nikosia aber wird in Zypern nicht gegen den Russen ermittelt. „Als die Ladung nicht abgeholt wurde, fiel sie in den Verantwortungsbereich des Libanon“, meint der Bremer Seerechtsexperte Hendrik Jungen. „Ich würde sagen, es war ein Kollektivversagen der libanesischen Behörden.“

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