EU-Türkei-Abkommen zu Flüchtlingen Wenn der Erdogan-Deal platzt

Berlin · Noch läuft die Abwicklung des EU-Türkei-Abkommens störungsfrei, allerdings mit deutlich weniger Flüchtlingen als ursprünglich geplant. Doch im Spätsommer drohen neue Komplikationen und Konfrontationen. Eine Analyse.

 Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit Recep Tayyip Erdoğan.

Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammen mit Recep Tayyip Erdoğan.

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Zwei Zahlen zeigen den Unterschied. 211.663: So viele Flüchtlinge kamen allein im Oktober vergangenen Jahres in Griechenland an. Und 18: So viele Flüchtlinge kommen derzeit an einem Tag, wenn es ausnahmsweise einmal eine größere Gruppe geschafft hat. Das EU-Türkei-Abkommen funktioniert also. Erdogan hält sich daran, den Strom von Flüchtlingen von seinem Festland zu den wenige Kilometer entfernt liegenden griechischen Inseln so gut wie eben möglich zu unterbinden.

Doch das Vertragswerk steht auf wackligen Füßen. Wiederholt hat Erdogan mit dem Bruch gedroht, falls die EU die versprochene Visafreiheit für die Türken nicht erfüllt. Ursprünglich bis Ende Juni verabredet, hat die EU das Projekt auf Eis gelegt. Von den 72 Bedingungen ist vor allem eine in den Mittelpunkt gerückt: Die Türkei soll seine Anti-Terror-Gesetzgebung so ändern, dass sie nicht mehr dazu dienen kann, kritische Journalisten und kurdische Abgeordnete mundtot zu machen.

Erdogan will das auf keinen Fall, die EU auf keinen Fall darauf verzichten. Damit kommt es wohl im September zum Schwur. Die Anzeichen für eine Verständigung sind nach dem Treffen Erdogans mit Kanzlerin Angela Merkel am Rande des Nato-Gipfels denkbar schlecht. Gemessen an den Dimensionen von Flüchtlingsdynamik und Terrorbekämpfung ist die Frage, ob deutsche Bundestagsabgeordnete deutsche Bundeswehrsoldaten im türkischen Incirlik besuchen dürfen, eine Lappalie. Aber nicht einmal in diesem Punkt kamen Merkel und Erdogan voran. Was blüht dann erst, wenn das komplette Abkommen vor dem Scheitern steht?

Diplomatenkreise dämpfen: Mit dem Reiseverbot für Abgeordnete treffe Erdogan genau diejenigen, die im vergangenen Monat die Erdogan verärgernde Armenien-Resolution verabschiedet hatten — der Bundestag hatte die Gewalttaten an den Armeniern durch osmanische Soldaten im Jahr 1915 als Völkermord eingestuft. Deshalb blase die türkische Führung die Kritik an den Parlamentariern symbolisch derart auf. Natürlich wisse auch Nato-Partner Türkei, dass die Bundeswehr mit ihrer Beteiligung am Anti-IS-Feldzug auch zum Schutz der Türkei im Einsatz ist. Doch so schnell will Ankara nach dem Völkermord-Passus in der Resolution nicht beidrehen.

Gleichzeitig laufe das operative Geschehen weitestgehend reibungsfrei. Die Ägäis-Mission der Nato mit der Beobachtung von Flüchtlingsbewegungen treffe auf kooperativ aufgestellte Türken. Und auch die Rücknahme-Vorgaben aus dem EU-Türkei-Abkommen würden erfüllt, heißt es in Regierungskreisen.

Nach einer aktuellen Übersicht der EU-Kommission sind seit dem Start am 4. April 468 Flüchtlinge von Griechenland zurück in die Türkei gebracht worden. Gleichzeitig nahm die EU der Türkei 798 Flüchtlinge ab. Nach drei Monaten sind das sehr kleine Zahlen, gemessen daran, dass sich die EU darauf eingestellt hatte, dafür 18.000 Plätze zur Verfügung zu stellen und für zusätzliche freiwillige Aufnahmen weitere 54.000 aus anderen Verpflichtungen "umzuwidmen". Deutschland stellte allein 1600 Plätze bereit — und nahm weitere 13.500 in Reserve. Tatsächlich kamen bislang erst 294 Flüchtlinge in Deutschland an. Regierungskreise erwarten die nächste größere Gruppe Ende des Monats.

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In Verhandlungen mit der Türkei sei nach anfänglichen Problemen erreicht worden, der Familienzusammenführung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die meisten jener 135 Flüchtlinge, die Mitte Juni in Kassel-Calden eintrafen, hätten bereits Verwandte in Deutschland gehabt. Auf Arbeitsebene erlebt die EU die Türkei also durchaus kooperationsbereit.

Andererseits kann auch die Türkei nicht klagen. Nach dem Wortlaut des Abkommens hätte die EU nämlich im 1:1-Verfahren bislang erst 31 Flüchtlinge übernehmen müssen. Mehr Syrer sind tatsächlich noch gar nicht zurück in die Türkei gebracht worden. Doch das liegt nicht an der Türkei. Griechische Registrierungs- und Asylverfahren dauern länger als vermutet.

Drei Milliarden Euro und die Aussicht auf die Finanzierung weiterer Projekte für Flüchtlinge in der Türkei sind zudem ein gewaltiges Motiv für Erdogan, am Abkommen auch dann festzuhalten, wenn aus der Visa-Liberalisierung nichts wird. Aber wird man ihm einen Bruch nachweisen können, wenn die Schiffe der türkischen Küstenwache es zufällig "übersehen", dass da wieder mehr Schlepper die Ägäis nutzen? Die Kanzlerin hat nach eigener Auskunft keinen Plan B für den Fall, dass die Verständigung mit der Türkei in die Brüche geht. Welche Instrumente sind stattdessen im Werkzeugkasten?

Allen voran der Wandel der "Frontex"-Polizei zur wirksamen Schutztruppe für die EU-Außengrenzen. Der Umbau ist für EU-Verhältnisse in rasantem Tempo binnen weniger Monate zustande gekommen. Auf dem Papier. In der Realität fehlt dieser angepeilte Wandel noch. Zugleich arbeiten Diplomaten mit Nachdruck an der Stabilisierung Libyens. Auch der Einsatz von westlichen Kriegsschiffen in nordafrikanischen Hoheitsgewässern nimmt Gestalt an. Letztes Ziel: statt Flüchtlinge aus Seenot und Lebensgefahr zu retten, die Schlepper vor dem Ablegen zu stoppen.

In Niger testet die EU auf Druck aus Deutschland, wie sich die Auswahl Schutzbedürftiger nach Afrika verlagern, die illegale Einreise vieler durch die legale Aufnahme weniger ersetzen lässt. Die Bundespolizei steht zudem bereit, ein weiteres Mal die deutsch-österreichische Grenze zu schließen. Aber mehr als ein paar Tage ist das nicht durchzuhalten, zumal die Schlepper mehr und mehr auf die Schweiz und Polen sowie auf die grüne Grenze ausweichen - und zwar auch entlang der eigentlich geschlossenen Balkan-Route.

Bleibt vor allem eines: besser, der Erdogan-Deal funktioniert weiter.

(may-)
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