Putsch vor 60 Jahren Erdogans ständige Angst vor dem Galgen

Istanbul · 1960 putschte das Militär erstmals in der Geschichte der modernen Türkei und ließ den damaligen Ministerpräsidenten nach einem Schauprozess hinrichten. Das prägt seinen Nachfolger bis heute.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht zum zweiten Jahrestag des gescheiterten Putschs vom Juli 2016.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht zum zweiten Jahrestag des gescheiterten Putschs vom Juli 2016.

Foto: AFP/OZAN KOSE

„Wenn sie nur könnten, würden sie mich aufknüpfen“ – davon ist Recep Tayyip Erdogan überzeugt. In seinen Reden warnt der türkische Präsident seine Anhänger immer wieder, die politischen Gegner seiner Regierungspartei AKP seien zu allem entschlossen. Dass sich der 66-jährige Staatschef trotz seiner fast unumschränkten Macht als Verfolgter sieht, hat viel mit einem Ereignis zu tun, das sich zum 60. Mal jährt: Am 27. Mai 1960 stürzten die türkischen Militärs den damaligen Ministerpräsidenten Adnan Menderes – Erdogans politisches Vorbild – und ließen ihn später hinrichten. Der erste Putsch in der Geschichte der modernen Türkei prägt das Land bis heute.

Erst kürzlich veröffentlichte Erdogan auf Twitter ein Video, in dem er sich als unbeugsamer Kämpfer gab, der unablässig die Angriffe seiner Feinde abwehren muss, zuletzt beim Putschversuch von 2016: „Auch wenn sie uns nach dem Leben trachten, wir werden niemals von unserem Weg abweichen“, ruft er in dem Video aus.

Der gescheiterte Staatsstreich von 2016 war der Endpunkt einer Entwicklung, die am 27. Mai 1960 begonnen hatte. Offiziere um Oberst Alparslan Türkes rissen die Macht an sich und setzten die Regierung Menderes ab. Elf Jahre später putschten die Militärs erneut, und auch 1980 vertrieben die Generäle die gewählten Politiker von der Macht. Im Jahr 1997 genügte eine Warnung des Generalstabs, um den damaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, Erdogans politischen Ziehvater, aus dem Amt zu drängen.

Doch es ist der Staatsstreich von 1960, der Erdogans Denken und Fürchten prägt. Denn der Putsch endete für Menderes am Galgen: Der abgesetzte Ministerpräsident wurde 1961 nach einem Schauprozess auf der Insel Yassiada vor Istanbul gehängt. Mit der Eröffnung einer Gedenkstätte auf Yassiada erinnerte Erdogan demonstrativ daran.

Der Staatschef bezieht sich immer wieder auf Menderes. Das tue er teils aus politischem Kalkül, sagt Günter Seufert, der Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Zum einen deutet er damit an, dass er wie Adnan Menderes bereit ist, jedes Risiko für seine Politik auf sich zu nehmen“, sagt Seufert. „Andererseits dient ihm das Schicksal von Adnan Menderes dazu, sich selbst immer wieder als den Bedrohten, den Schwachen, der starken inneren Feinden gegenübersteht, darzustellen und damit davon abzulenken, dass er sehr entschlossen und manchmal auch sehr aggressiv Politik machen kann.“

Tatsächlich gibt es deutliche Parallelen zwischen Menderes und Erdogan. Wie Erdogan war Menderes „ein Vollblutpolitiker und ein Machtmensch“, sagt Seufert. Wie Erdogan habe Menderes die säkulare Elite der Türkei herausgefordert und politische Tabus gebrochen. Wie später Erdogan gründete Adnan Menderes 1946 eine politische Partei, die das Land prägen sollte: Seine Demokratische Partei war die erste Oppositionspartei in der Türkei, die bis dahin nur die Republikanische Volkspartei (CHP) von Staatsgründer Atatürk kannte. Die ersten freien Parlamentswahlen des Landes gewann Menderes 1950 mit einem Erdrutschsieg, wie das ein halbes Jahrhundert später auch Erdogan mit seiner AKP gelingen sollte.

Nicholas Danforth, Türkei-Experte an der Denkfabrik Wilson Center in Washington, sieht noch andere Ähnlichkeiten zwischen der Ära Menderes und Erdogans Regierungszeit. „Die Menderes-Regierung fühlte sich ihrer Macht nie sicher und wurde immer repressiver“, sagt Danforth. „Sie nahm oppositionelle Journalisten fest und verbot deren Zeitungen. Gegen Ende der 50er Jahre gab es physische Angriffe auf Oppositionspolitiker und die Sorge, dass die gesamte Opposition kriminalisiert werden sollte.“

Bis heute spaltet der Putsch von 1960 die türkische Gesellschaft. Die türkische Linke sehe den Umsturz von damals positiv, sagt Behlül Özkan, Politikwissenschaftler an der Marmara-Universität in Istanbul – nämlich „als Ereignis, das die Liberalisierung der Türkei sowie die Gründung von sozialistischen und linken Parteien in den 60er Jahren ermöglichte“. Bei der Rechten überwiege dagegen die Erinnerung an die Hinrichtung von Menderes, sagt Özkan. „Deshalb verfluchen Mitte-rechts-Politiker wie Erdogan den Putsch von 1960.“

Erdogan und seine Anhänger werfen der Säkularisten-Partei CHP bis heute vor, klammheimlich auf einen erneuten Staatsstreich der Armee zu hoffen. „Die AKP verweist gerne auf den Putsch von 1960 und auf die damalige Politik der CHP, um letzten Endes zwischen den Zeilen anzudeuten, dass die Gefahr einer Machtübernahme durch das Militär noch immer besteht“, sagt Seufert.

Entsprechend allergisch reagieren Erdogan und die AKP auf alle Äußerungen, mit denen aus ihrer Sicht die Legitimität ihres Machtanspruchs infrage gestellt wird. Kritik an der Regierung wird schnell als Aufwiegelung zum Staatsstreich ausgelegt und von der Justiz entsprechend verfolgt. Selbst Demonstrationen werden umgedeutet. So bezeichnet Erdogan die Gezi-Proteste von 2013 als Putschversuch.

Erst vor Kurzem gab es einen Aufschrei in der regierungsnahen Presse, als die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancioglu sagte, es werde in absehbarer Zeit einen Machtwechsel oder gar einen Systemwechsel geben. Die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen wegen Umsturzversuches gegen den Kolumnisten Ragip Zarakolu ein, der über Erdogan und Menderes geschrieben hatte – unter dem Titel: „Es gibt kein Entrinnen vor dem Schicksal.“ AKP-Sprecher Hüseyin Çelik sprach von einem „Anschlag auf den Volkswillen“.

Danforth ist sicher, dass Erdogan seinen Gegnern tatsächlich alles zutraut. „Zweifellos denkt Erdogan tatsächlich, dass ihm seine Gegner das Schlimmste wünschen und dass sie ihn töten würden, wenn sie könnten“, sagte er. Erdogan nutze die Erinnerung an den Putsch von 1960 aber auch, um jede Form der Opposition zu diskreditieren. „Systematisch hat er selbst demokratische Versuche, ihn aus dem Amt zu jagen, als Putschversuche beschrieben.“

Dabei ist ein Putsch wie der von 1960 in der Türkei so gut wie ausgeschlossen. Erdogan hat die politische Vormundschaft der türkischen Armee beendet. Der letzte Putschversuch vor vier Jahren wurde auch deshalb niedergeschlagen, weil die Mehrheit der Armee loyal zur Regierung stand.

Politikwissenschaftler Özkan hält das permanente Schreckensszenario der AKP auch aus anderen Gründen nicht für überzeugend. Das Land habe sich grundlegend gewandelt: „In den 50er Jahren lebten die meisten Türken auf dem Land, heute dagegen leben die meisten in den Großstädten.“ Die türkische Wirtschaft von heute sei in die Weltwirtschaft integriert. „In den letzten 60 Jahren hat sich so viel verändert, dass es sinnlos ist, die politische Szene der heutigen Türkei mit den 50er Jahren und dem Putsch von 1960 zu vergleichen.“ Auch Seufert glaubt nicht, dass in der Türkei mit einem weiteren Putsch zu rechnen ist. Anders als Menderes habe Erdogan heute sowohl das Militär als auch die Polizei sowie große Teile der Justiz in der Hand. „Von daher ist schwer vorstellbar, welcher Teil des Staatsapparates ihm gefährlich werden könnte.“

Erdogan selbst scheint sich da nicht so sicher zu sein. Ihm geht es darum, jeden Funken eines potenziellen Aufstandes sofort auszutreten. Oppositionelle wie der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas, Intellektuelle wie der Schriftsteller Ahmet Altan und führende Vertreter der Zivilgesellschaft wie der Kunstmäzen Osman Kavala werden seit Jahren mit fadenscheinigen Begründungen im Gefängnis gehalten. Dutzende Journalisten sitzen ebenfalls in Haft. Schon harmlose Kommentare in den sozialen Medien können harte Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Die Justiz leitete in den vergangenen Jahren mehrere Zehntausend Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung ein.

Der Druck auf Andersdenkende steigt unablässig, weil Erdogan jede Liberalisierung als potenziell fatales Zeichen der Schwäche ablehnt. „Solange wir stark sind, kann in diesem Land keiner mehr putschen“, sagte der Präsident im vergangenen Jahr auf Yassiada, jener Insel, auf der Menderes vor Gericht stand. „Es kommt alles darauf an, dass wir stark sind.“

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