Erdogan zu Besuch in Kiew Drohnen, Gas, Touristen und die Nato

Analyse | Kiew/Istanbul · Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist und bietet sich im Konflikt mit Russland als Vermittler an. Dabei verfolgt er vor allem auch eigene Ziele.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (links) empfängt  den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Kiew.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (links) empfängt den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Kiew.

Foto: AP/Efrem Lukatsky

Wenn er will, kann Recep Tayyip Erdogan seine Worte diplomatisch wählen. Die Türkei wolle dazu beitragen, die „negativen Entwicklungen“ zwischen Russland und der Ukraine nicht weiter eskalieren zu lassen, sagte der türkische Staatspräsident am Donnerstag vor seinem Abflug zu Gesprächen in Kiew. Erdogan rief beide Seiten zur Mäßigung und zum Dialog auf. In der ukrainischen Hauptstadt traf Erdogan am Nachmittag mit Staatschef Wolodymyr Selenskyi zusammen. Demnächst will Erdogan zudem Kremlchef Wladimir Putin in der Türkei willkommen heißen. Mit der Vermittlungsaktion verfolgt der türkische Präsident mehrere Ziele. Ein Überblick.

Wirtschaft Für die Türkei wäre ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine eine wirtschaftliche Kata­strophe. Ankara hat gute Beziehungen zu beiden Kontrahenten und hätte im Falle eines Konflikts viel zu verlieren. Die zwei Länder stellten im vergangenen Jahr zusammengenommen 20 Prozent aller ausländischen Urlauber in der Türkei: Rund 4,5 Millionen Russen und zwei Millionen Ukrainer kamen trotz der Pandemie an die türkischen Strände. Die Ukraine kauft zudem türkische Kampfdrohnen und liefert Motoren für die türkische Rüstungsindustrie. Die türkischen Exporte in die Ukraine belaufen sich auf rund 2,3 Milliarden Euro im Jahr, die Ausfuhren nach Russland liegen bei 3,9 Milliarden. Erdogan will den Handel mit beiden Ländern ausbauen.

Gas-Importe In einem Krieg würde die Türkei als Nato-Mitglied unter Druck geraten, sich westlichen Strafmaßnahmen gegen Moskau anzuschließen, doch das Land ist im Energiebereich von Russland abhängig. Erst vorige Woche musste Erdogan viele Industriebetriebe in der Türkei für mehrere Tage schließen, weil Erdgasimporte aus dem Iran stockten. Dabei erhält das Land nur 16 Prozent seines Erdgasbedarfs aus dem Iran. Wenn Putin den Hahn zudreht, könnten überall in der Türkei schnell die Lichter ausgehen, denn Russland liefert ein Drittel der türkischen Gasimporte.

Außenpolitik Die Ukraine hatte bereits im vergangenen Jahr eine Rolle der Türkei bei den Bemühungen um Deeskalation begrüßt, doch Russland zeigte damals wenig Interesse. Jetzt aber will Putin nach Erdogans Worten nach seinem Besuch der Olympischen Winterspiele in China in die Türkei kommen. Erdogan und Putin haben in den vergangenen Jahren ein gutes persönliches Verhältnis entwickelt. Russland weiß, dass Erdogan sich nicht automatisch allen Schritten des Westens anschließt: Ankara erkennt die russische Annexion der Krim von 2014 zwar nicht an, beteiligte sich aber auch nicht an westlichen Sanktionen gegen Moskau. Erdogan will verhindern, dass sich die Türkei zwischen Russland und der Ukraine entscheiden muss.

Geografie Auch die Geografie ist ein Grund, dass Erdogan versucht, das Schlimmste zu verhindern. Weil die Türkei die Seeverbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer – den Bosporus und die Dardanellen – kontrolliert, stünde sie bei einer militärischen Eskalation vor der Frage, ob sie die Zufahrt von Nato-Schiffen ins Schwarze Meer erlaubt, begrenzt oder ganz stoppt. In einer solchen Situation würde sich Ankara entweder die eine oder die andere Seite zum Feind machen. Das will Erdogan vermeiden. 

Verhältnis zum Westen Die Vermittlungsrolle bietet Erdogan die Chance, sein problembeladenes Verhältnis zum Westen zu verbessern. Die Türkei hat sich in den vergangenen Jahren in den USA und Europa mit der Anschaffung eines russischen Flugabwehrsystems, militärischen Interventionen in Syrien und Libyen sowie mit Druck in der Flüchtlingspolitik unbeliebt gemacht. US-Präsident Joe Biden nennt Erdogan einen Autokraten und vermeidet direkte Kontakte mit ihm, soweit es geht. Mit einer erfolgreichen Vermittlung im Ukraine-Konflikt könnte Erdogan den USA und der EU vor Augen führen, dass die Türkei ein wertvoller Partner ist.

Was Erdogan als Vermittler inhaltlich vorschlagen will, wollte er am Donnerstag nicht verraten. Nach Angaben von Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun will sich die Türkei als Gastgeberin russisch-ukrainischer Gespräche anbieten.

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