Türkei Ausnahmezustand neuer Art

Ankara · Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan regiert weiter per Dekret, wie schon während des Notstands in den zwei Jahren zuvor. Ein „Antiterrorgesetz“ soll die Bürgerrechte weiter einschränken. Die Opposition flüchtet sich in Sarkasmus.

 Ein Mann, ein Staat: Recep Tayyip Erdogan – hier bei einer Rede zum zweiten Jahrestags des Putschversuchs am 15. Juli.

Ein Mann, ein Staat: Recep Tayyip Erdogan – hier bei einer Rede zum zweiten Jahrestags des Putschversuchs am 15. Juli.

Foto: AFP/OZAN KOSE

Der Ausnahmezustand ist vorbei – und besteht unter anderen Vorzeichen weiter. So kommentierten die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien der Türkei die Aufhebung des seit zwei Jahren bestehenden Notstands in der Nacht zu Donnerstag. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte das Ausnahmerecht nach dem Putschversuch im Juli 2016 verfügt, danach sieben Mal um jeweils drei Monate verlängern lassen. Nun sollen die verfassungsmäßigen Rechte der türkischen Bürger wieder gelten – soweit sie nicht durch Gesetze, Präsidialdekrete und andere Maßnahmen eingeschränkt werden.

Tatsächlich unterschied sich die Realität am Donnerstag kein Jota von der Lage zuvor. Gerichte verweigerten die Freilassung des früheren Co-Vorsitzenden der prokurdischen Parlamentspartei HDP, Selahattin Demirtas, und des US-amerikanischen Pastors Andrew Brunson, die beide seit fast zwei Jahren unter haarsträubenden Terrorismusvorwürfen inhaftiert sind. Ein Richter in Ankara verurteilte den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kiliçdaroglu, zu einer Strafe von rund 64.000 Euro wegen angeblicher Beleidigung des Staats­präsidenten. Die bekannteste Gerichtsreporterin der Türkei, Canan Coskun von der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“, wurde zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil sie aus öffentlichen Gerichtsakten zitiert hatte. Die Liste lässt sich beliebig erweitern.

Mit einer innenpolitischen Normalisierung ist auf absehbare Zeit kaum zu rechnen. Unter dem international scharf kritisierten Ausnahmezustand waren Grundrechte wie die Versammlungs- oder Pressefreiheit eingeschränkt worden; Erdogan konnte per Dekret regieren. Viele seiner Notstandsdekrete richteten sich gegen mutmaßliche Anhänger des in den USA im Exil lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, den der Präsident für den Putschversuch verantwortlich machte. Ohne den Ausnahmezustand hätte Erdogan die Präsidialherrschaft wohl kaum erreichen können, die nach den Wahlen vom Juni nun in Kraft getreten ist.

Erdogan regiert weiter – jetzt aber ganz „normal“ – per Dekret, und im Parlament steht die von ihm gesteuerte Mehrheit der islamistischen Regierungspartei AKP und ihres rechtsextremen Koalitionspartners MHP im Begriff, die Einschränkungen der Bürgerrechte durch ein neues „Antiterrorgesetz“ fortzusetzen.

Danach können Verdächtige bis zu zwölf Tage in Polizeigewahrsam kommen, ohne einem Richter vorgeführt zu werden. Die Provinzgouverneure können Bürger „aus Sicherheitsgründen“ für 15 Tage in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. „Terrorverdächtige“ Firmen und Vereine können weiter staatlichen Verwaltern unterstellt werden. Das Innenministerium darf die Reisepässe von „Terrorverdächtigen“ und deren Ehepartnern ohne weitere Begründung einziehen. Die Entlassung von Staatsbediensteten und Soldaten wird erleichtert. 

Laut Entwurf soll das Gesetz zunächst drei Jahre gültig sein. Damit werde der Ausnahmezustand nicht mehr alle drei Monate, sondern alle drei Jahre verlängert, erklärte der CHP-Fraktionschef im Parlament, Özgür Özel, sarkastisch.

In Deutschland herrscht die Sorge, dass die Türkei weiter eine autoritäre Entwicklung nimmt. Die Vizechefin der Linksfraktion im Bundestag, Sevim Dagdelen, sieht durch das Ende des Ausnahmezustands in der Türkei keinerlei Fortschritt. „Ein Ende der Willkürherrschaft ist nicht zu erwarten. Der Ausnahmezustand ist ab jetzt Normalzustand. Nichts wird besser, vieles schlechter", sagte Dagdelen unserer Redaktion. Sie warnte, die Bundesregierung dürfe nicht „dem Umbau der Türkei zum islamistischen Unterdrückungsstaat" mit Normalisierung oder gar Intensivierung der Beziehungen begegnen. "Schon jetzt sehen neue Gesetzesvorschläge weitere Einschränkungen von Grundrechten auf Jahre vor", kritisierte Dagdelen.

Außenminister Heiko Maas (SPD) würdigte das Ende des Ausnahmezustands zwar als „wichtiges Signal“, warnte aber auch vor dessen Verlängerung „durch die Hintertür“. Die neue Verfassung gebe der türkischen Regierung erhebliche Vollmachten, sagte Maas der Nachrichtenagentur dpa.

Für die inhaftierten Journalisten, Abgeordneten und Oppositionellen bleibe alles beim Alten, erklärte die Linken-Politikerin Dagdelen. „Es steht zu erwarten, dass auch weiterhin jedes Jahr Tausende türkische Staatsbürger nach Deutschland flüchten werden", betonte sie. „Notwendig ist ein Stopp der Rüstungsexporte an Erdogan und ein Ende der Finanz- und Wirtschaftshilfen. Die Verhandlungen über einen EU-Beitritt müssen offiziell ausgesetzt werden."

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