Flüchtlinge Die Zeit drängt

Istanbul · Die Situation für die Flüchtlinge in Griechenland und der Türkei ist heikel. Merkel und Macron verhandeln am Dienstag mit Erdogan.

 Ein Junge im Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos.

Ein Junge im Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos.

Foto: AFP/MANOLIS LAGOUTARIS

Wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an diesem Dienstag mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron über die neue Flüchtlingskrise zwischen Türkei und Europa redet, meiden die drei Spitzenpolitiker wegen der Corona-Krise den persönlichen Kontakt und führen ihr Gespräch per Video-Konferenz. Nicht nur geographisch sind Erdogan, Merkel und Macron weit voneinander entfernt, auch inhaltlich liegen die Positionen auseinander. Doch die Zeit drängt. Flüchtlinge in Griechenland und in der syrischen Provinz Idlib sind nach Einschätzung von Hilfsorganisationen zusätzlich durch das Coronavirus gefährdet. „Wenn das Virus die Lager in Idlib erreicht, ist es nicht mehr aufzuhalten“, sagte Fadi al-Dairi von der Hilfsorganisation Hihfad unserer Redaktion.

Erdogan hatte Ende Februar die Grenze zu Griechenland für Flüchtlinge geöffnet, um die Europäer zu Zugeständnissen in der Flüchtlingsfrage und zu mehr Engagement im Syrien-Konflikt zu zwingen. Zehntausende Menschen aus Afghanistan, Syrien und anderen Ländern versuchten daraufhin, aus der Türkei ins benachbarte EU-Land Griechenland zu kommen, doch die meisten wurden von den griechischen Grenztruppen gestoppt. Die europäische Grenzschutzbehörde Frontex schickte vergangene Woche 100 zusätzliche Beamte, um Griechenland zu helfen. Mehrere Tausend Flüchtlinge sitzen deshalb bei Regen und Kälte an der Grenze fest.

Die Türkei stellt Bedingungen dafür, die Grenze wieder zu schließen und den Flüchtlingsdeal von 2016 fortzuschreiben. Das Abkommen von damals verpflichtete die Türkei, Flüchtlinge an der Weiterreise in die Europäische Union zu hindern, und sagte Ankara sechs Milliarden Euro an Hilfe zu. Für die Erneuerung des Pakts fordert die Türkei weitere Gelder und Visafreiheit für ihre Bürger in der EU. Europa ist zu weiteren Zahlungen bereit, verlangt als Vorbedingung für eine Lösung aber, dass die Türkei ihre Landgrenze zu Griechenland wieder schließt – was Erdogan bisher ablehnt.

Bei einem Besuch von Erdogan in Brüssel in der vergangenen Woche hatten sich Türkei und EU auf neue Gespräche über das Thema verständigt. Erdogan will die Europäer auch als Bündnispartner im syrischen Idlib gewinnen, wo rund eine Million Zivilisten vor den Kämpfen an die geschlossene türkische Grenze geflohen sind. Viele von ihnen leben in Lagern ohne feste Unterkünfte, ohne genügend Toiletten und ohne Kanalisation. Eine von der Türkei und Russland ausgehandelte Waffenruhe in Idlib hält derzeit zwar, doch viele Beobachter in der Provinz befürchten, dass die Kämpfe bald wieder beginnen könnten.

Russlands Partner, der syrische Präsident Baschar al Assad, will ganz Idlib unter seine Kontrolle bringen und so seinen militärischen Sieg nach neun Jahren Bürgerkrieg krönen. Dagegen fordert Erdogan – bisher vergeblich – einen Rückzug von Assads Truppen aus der Provinz. Fadi al Dairi von Hihfad sagte, eine Rückkehr in die von der Regierung eroberten Gebiete von Idlib komme für die meisten Menschen in der Provinz nicht in Frage, weil es keine Garantien für ihre Sicherheit gebe.

Noch gefährlicher wird die Lage der Flüchtlinge durch die weltweite Ausbreitung des Coronavirus. Offiziell gibt es in Syrien bisher zwar noch keinen einzigen Fall einer Erkrankung, obwohl das Virus in allen fünf Nachbarländern aufgetreten ist. Eine Epidemie könnte in Syrien verheerende Folgen haben: Viele Krankenhäuser sind zerstört, Millionen von Menschen leben in Notbehausungen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO bereitet nach eigenen Angaben mehrere Labors in Idlib und in der benachbarten Türkei auf die Untersuchung potenzieller Corona-Fälle vor.

Dairi sagte, Flüchtlinge seien durch das Virus besonders bedroht. Er verwies auf die schlechten sanitären Bedingungen in den Lagern. „100 Leute teilen sich eine Toilette“, sagte auch Hisham Dirani von der Organisation Binaa unserer Zeitung. „Die Situation ist ideal für das Virus“. Ein Ausbruch der Krankheit Covid-19 könnte für viele Menschen den Tod bedeuten: In ganz Idlib mit seinen drei Millionen Bewohnern gebe es gerade einmal 50 Beatmungsgeräte.

Auch die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln sind nach Ansicht von Helfern in Gefahr. Die Organisation Ärzte ohne Grenze erklärte vor einigen Tagen, die Registrierung eines Corona-Falles auf der Insel Lesbos zeige das hohe Risiko, dass sich der Krankheitserreger in den überfüllten Lagern auf Lesbos ausbreiten könnte. Im berüchtigten Lager Moria gebe es teilweise nur einen Wasserhahn für 1300 Menschen – und keine Seife.

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