Israel Ein Tag in Yad Vashem

Jerusalem · Ein Tag in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist schmerzhaft. Nirgendwo werden die monströsen Verbrechen von Nazi-Deutschland so eindringlich dargestellt. Doch wer will das noch hören? Gerade jetzt ist dieser Ort wichtiger denn je. Ein Besuch.

 Jedes Foto erzählt eine traurige Geschichte.

Jedes Foto erzählt eine traurige Geschichte.

Foto: dpa

Dieses Bild ist ein Alptraum. Immer noch. Es geht mir nicht mehr aus dem Kopf, seitdem ich vor vielen Jahren zum ersten Mal hier war, in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte auf dem Hügel über Jerusalem. Das Foto in einem der hinteren Ausstellungsräume zeigt einen Uniformierten, der sein Gewehr auf eine Frau richtet, die ein Kind im Arm hält und offenbar wegrennen will. Nur ein halber Meter trennt die beiden. Er wird die Frau und das Kind erschießen. Hinterrücks.

 Der Soldat schießt der Mutter in den Kopf.

Der Soldat schießt der Mutter in den Kopf.

Foto: Yad Vashem

An diesem Tag in Ivangorod, im Osten der Ukraine, überlebt kein Jude das Wüten der SS-Einsatzgruppe C. Es ist eine frühe Episode aus Hitlers Plan einer "Endlösung", der hier gezeigt wird. In einer Glasvitrine liegt ein Protokoll eines SS-Mannes, der die Taten schildert. Er schreibt von den Gewehren, die heiß liefen und den schmerzenden Schultern, weil die Erschießung von Zehntausenden an einem einzigen Wochenende so viel Kraft kostet.

Zwei Tage vor dem offiziellen israelischen Holocaust-Gedenktag bin ich mit einem Dutzend Kollegen Gast eines Seminars in Yad Vashem. "Bild"-Herausgeber Kai Diekmann hat eingeladen und organisiert, die Unterstützung des israelischen Volkes gehört zur DNA des Axel Springer Verlages. Es geht um Begegnungen, Diskussionen, Austausch.

Mein erster Gedanke: Nicht schon wieder. Holocaust. Wer kann das alles noch hören? Doch schon die Frage ist falsch. Sie müsste eigentlich lauten: Wer hört überhaupt noch zu? Die Zeitzeugen des Jahrhundertverbrechens sterben, wer kann noch ein Schicksal erzählen, dem Grauen das Eindrückliche geben? Hier in Yad Vashem wird die Shoah seit 1953 so konkret, persönlich und eindringlich wie möglich erzählt. Es sind unfassbare Geschichten.

In einem Raum wurden Teile des Warschauer Ghettos nachgebaut. Wir stehen auf Schienen, die in ein Kopfsteinpflaster eingelassen sind. Auf Fußhöhe ist ein Fernseher montiert, als stünde er am Straßenrand. Darauf sehen wir ein Video in Dauerschleife. Es zeigt abgemagerte Kinder, kleine Körper, die nur noch von Knochen zusammengehalten werden. Kinder, die auf dem Bordstein vor sich hin vegetieren. Wir müssen nach unten schauen. Es ist, als wären wir live dabei. Aus meinem Kloß im Hals werden Tränen.

So geht das weiter. Es ist das Prinzip von Yad Vashem. Dem Horror ein Gesicht, eine Geschichte geben. Ich lese das Tagebuch eines zehnjährigen Jungen, der kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz notiert: "Wir stehen am Tor zur Hölle. Ich muss mich verabschieden", schreibt er. Ich schaue mir Landschaftsmalereien von Petr Ginz an, einem talentierten 14-Jährigen, dessen Traum von einem Künstlerleben im Krematorium endete. Oder die Geschichte von David Sierskowiak, der 16-Jährige, der Ende der 30er Jahre in der Schule Bestnoten schreibt, Shakespeare im Original liest, und 1939 plötzlich ausgegrenzt und auf dem Schulhof bespuckt wird.

"Schäm dich, Jude", rufen ihm Mitschüler zu. Bevor er volljährig wird, stirbt er im Lager Lodz. "Schämen müssen wir uns nicht, sondern die anderen", lesen wir in seinem Notizbuch, das alliierte Soldaten später finden.

"Tiefer geht's nicht", hat der Holocaust-Überlebende Primo Levy das Grauen mal treffend formuliert. Die Halle der Namen, der letzte Raum in Yad Vashem, ist ein Ort voller Schwere. Hier werden Millionen Gedenkblätter mit biografischen Notizen zu Opfern aufbewahrt. Wir stehen still, die Porträtfotos wirken erdrückend. Erst danach geht es raus aus den verwinkelten, dunklen Räumen. Ans Tageslicht.

An diesem Donnerstag wird der Har Hazikaron, der Berg des Gedenkens, zur Festung. 3000 Israelis huldigen bei einer Zeremonie den "Helden und Märtyrern des Holocaust". Das ganze Land steht still. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und sein Kabinett werden da sein. Überlebende, Angehörige. Es gilt Sicherheitsstufe eins. In keiner Demokratie der Welt gehört das Militär so zum Stadtbild wie in Israel.

Terror ist Alltag in dem Land, das seit seiner Staatsgründung 1948 auf palästinensischem Gebiet von Feinden umzingelt ist. Israel verschanzt sich hinter acht Meter hohen Mauern und Stacheldrahtzäunen. So leben die Juden heute.

"Die Deutschen sind heute unsere besten Freunde"

Nur so versteht man, was uns Arik Rav-On, Koordinator von Yad Vashem für die deutschsprachigen Länder, bei einer Diskussion sagt: "Die Deutschen sind heute unsere besten Freunde." Man könne gut unterscheiden zwischen damals und heute. Der Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel von 2008, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson, gilt hier als größte Solidaritätsbekundung eines Staatschefs.

Die jüngsten Medienberichte in Deutschland, nach denen sich Merkel von Netanjahu distanziere, wurden besonders sorgsam registriert. Nach den Enttäuschungen über die USA, die sich unter Präsident Barack Obama erheblich von der israelischen Regierung entfernt und gegen deren Willen das Atom-Abkommen mit dem Iran umgesetzt haben, bleibt nur noch Deutschland als unerschütterlicher Partner.

Erinnerung ist Verantwortung

Und was sollten wir tun? Unterscheiden. Israels aggressive Siedlungspolitik ist natürlich ein Hindernis für den Friedensprozess, wie soll der Flickenteppich der Siedlungen auch ein Territorium für einen palästinensischen Staat ergeben? Die Scham aber, mit der wir in Yad Vashem sind, bleibt davon unberührt. Die Erinnerung an den Holocaust ist Verantwortung.

Gerade für uns Spätgeborene, die kaum noch Zeitzeugen in der Familie haben. Wir müssen diese Geschichten erzählen. Und deshalb ist ein Besuch in Yad Vashem so wichtig. Zwei Stunden reichen schon. Jeder Deutsche sollte es tun. Manch aufstrebende völkisch-rassistische Denke würde im Keim erstickt.

(brö)
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