Ein Jahr danach Ein Leben nach dem Terror von London

London (RP). Am 7. Juli 2005 erschütterte eine Serie von Attentaten die englische Metropole London. Rachel North hat die Anschläge überlebt. Sie hat schlaflose Nächte durchlitten, sich bohrende Fragen gestellt und viele Leidensgefährten zusammengebracht. Heute, ein Jahr danach, blickt die 35-Jährige zurück und sagt: "Aus jedem Bösen wächst etwas Gutes."

Chronologie: Tag des Schreckens in London im Juli 2005
16 Bilder

Chronologie: Tag des Schreckens in London im Juli 2005

16 Bilder

Spuren gibt es so gut wie keine. Eine Narbe am Handgelenk, das ist alles. Auch sonst merkt man Rachel North wenig an. Gut gelaunt trinkt sie im Pub mexikanisches Bier. Laut ist sie und selbstsicher, so laut und selbstsicher, wie man wohl sein muss, will man einer anstrengenden Metropole wie London auf Dauer Paroli bieten. Ans Wegziehen dachte sie nie. "Ich hab eine tolle Arbeit, bin verlobt, wir haben unsere erste Wohnung gekauft. Das lass ich mir doch nicht kaputt machen von einem Rucksackbomber."

Der 7. Juli 2005: Am Finsbury Park, im Norden der Stadt, steigt sie in die U-Bahn. Irgendwo brannte ein Kabel, ein paar Züge fielen aus, es ist noch enger als sonst. Rachel drängelt sich durchs Gewühl des Bahnsteigs, steigt ganz vorn in den Zug, gleich hinterm Fahrer. In King‘s Cross, dem hektischen Knoten, wird es rappelvoll. Es dauert, bis die Türen sich schließen. Nach einer Minute, ungefähr, geht die Bombe hoch.

"Ich spürte den Knall mehr, als dass ich ihn hörte. Diesen Schlag gegen das Ohr. Es wurde stockfinster, zehn Sekunden lang Stille, dann Schreie. Die Luft war keine Luft mehr. Dreck war das, öliger Dreck. Als steckte man mit dem Kopf in einem Schornstein." Rachel North stand nur sechs Meter von Germaine Lindsay entfernt, dem 19-Jährigen mit der Bombe. Hätten nicht all die Leiber dazwischen den Druck abgefangen, sie hätte sicher mehr abbekommen als einen Metallsplitter, der sich ins linke Handgelenk bohrte. Doch die Welle war stark genug, um sie zu Boden zu werfen. "Da lag ich und dachte nur: O Gott, nicht schon wieder!"

Was sie jetzt erzähle, werde ihr sowieso keiner glauben, sagt North. Im Juli 2002 hatte sie schon einmal hilflos am Boden gelegen, blutend und dreckverschmiert, unter dem Körper eines Mannes, der bei ihr einbrach und sie vergewaltigen wollte. Das Trauma hat sie sich von der Seele geschrieben, als der Täter verurteilt war. Das Magazin "Marie Claire" hatte den Artikel gerade gedruckt, sie las ihn, als der Sprengsatz detonierte. "Ich dachte, das kann nur ein böser Traum sein."

Ihr nächster Gedanke: Bloß keine Panik. An dieser Stelle beginnen die Szenen, gefilmt von Handykameras, die man damals so bewundert hat an den Londonern. Rußverschmierte Gestalten, die diszipliniert, auf Kommando des Fahrers, über Notleitern aus dem Zug klettern, im Gänsemarsch durch den Tunnel laufen, sich oben den Staub von den Kleidern klopfen. "Bleibt ruhig, Leute, ganz ruhig, wir sind nur entgleist. Draußen warten sie schon auf uns, Krankenwagen, Sanitäter, alles wird gut." So redet Rachel im Dunkeln auf die anderen ein.

Es dauert vierzig Minuten, bis sie draußen sind. "Man stelle sich vor, vierzig Minuten Panik, das hätte doch kein Mensch durchgehalten", sagt sie. Als sie endlich draußen sind, in der Bahnhofshalle am Russell Square hocken, ist nichts da, kein Krankenwagen, kein Arzt, keine Mullbinden. Passanten reißen ihre Hemden in Fetzen, um Wunden zu versorgen. Rachel North fährt mit dem Taxi ins Krankenhaus. Dort läuft ein Fernseher, in den Nachrichten ist von Stromproblemen die Rede.

"Blödsinn", schreit sie, "das waren Bomben, überall zünden sie Bomben". Warum die Hilfe so schleppend anlief, hat das Stadtparlament inzwischen in allen Details geklärt. Das Mobilfunknetz brach zusammen, im Untergrund funktionierten die Walkie-Talkies nicht, Boten mussten in die Tunnel laufen und wieder heraus. Kaum zu glauben, dass dies in einer der reichsten Städte der Welt nicht besser klappte, kritisierte ein Untersuchungsbericht. Technische Fragen sind das, keine politischen.

Letzteren aber will Rachel North auf den Grund gehen. Wieso sprengt sich einer wie Lindsay, gerade Vater geworden, selbst in die Luft? Was hat ihn verbittert? Dass einen Muslim der Zorn packt, wenn er sieht, wie "seine Leute" im Irak leiden, kann die Überlebende noch begreifen. Nur wer die Motive von Terroristen verstehe, könne Terror verhindern, argumentiert sie.

Sie geht zu Lesungen, hört Autoren aus der islamischen Welt. Sie erkämpfte einen Termin bei Charles Clarke, als der noch Innenminister war, um eine Untersuchung der politischen Hintergründe zu fordern. Eines wird sie jedoch nie verstehen: Dass jemand den Menschen in die Gesichter schaut, Menschen, denen er ansieht, dass sie nicht seine Feinde sind - und trotzdem den Sprengstoff zündet. "Schockierend" ist das einzige Wort, das ihr in diesem Zusammenhang einfällt.

Anfangs wollte Rachel North sich zwingen, das Geschehene abzuschütteln wie ein paar lästige Fliegen. Keine 24 Stunden nach dem Bombenschock schaukelte sie erneut unterirdisch in Richtung Büro. "War dumm von mir. Nach Hause fuhr ich dann mit dem Taxi, und mein Chef gab mir vier Tage frei", sagt sie heute mit dem Abstand eines Jahres. Es folgten Monate, da konnte sie schlecht schlafen, weil sie wusste, dass sie morgens in der Röhre zur Arbeit musste. Im März brach Rachel vor Erschöpfung zusammen, ein posttraumatischer Schock. "Da hab ich‘s zum ersten Mal an mich rangelassen".

(Rheinische Post)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort