Absturz über der Ost-Ukraine Die sechs Mysterien des MH17-Abschusses

Düsseldorf · Wer war es? Mit welcher Waffe? Und warum? Die Beweise verdichten sich, dass die Boeing 777 über der Ost-Ukraine mit Gewalt zum Absturz gebracht wurde. Aber fehlende Fakten und widersprüchliche Aussagen geben breiten Raum für teils wilde Spekulationen.

Absturz über der Ost-Ukraine: Die sechs Mysterien des MH17-Abschusses
Foto: afp, JK

Wrackteile des abgestürzten Jets der Malaysia Airlines sind verschwunden; internationale Untersuchungsteams wurden behindert; die im Internet kursierenden Fotos und Filme sind offenbar teilweise manipuliert. Und die Konfliktparteien unternehmen alles, um den Gegner als Schuldigen hinzustellen. In dieser verworrenen Lage bietet das unaufgeklärte Verbrechen Zweiflern vielfältige Ansätze für düstere Thesen. Sie werden auch nach der Auswertung des Flugdatenschreibers weiter Anhänger finden. Wir widerlegen die gängigsten Verschwörungstheorien.

Theorie 1: Es gab gar keine Rakete

Russland wie die Ukraine behaupteten zunächst übereinstimmend und auffällig schnell, der Jet sei durch ein Flugabwehrsystem vom Typ "Buk" zerstört worden. Die Armeen beider Staaten verfügen darüber, so dass der Schuldige schwer auszumachen wäre. Doch wurde der Jet überhaupt von einer großen Rakete getroffen? Jeder kennt die Kondensstreifen, die Jets auf Reiseflughöhe bei mehr als minus 40 Grad durch ihre rußhaltigen Triebwerksabgase in Verbindung mit Luftfeuchtigkeit erzeugen. Das gilt auch für Raketen. Es gibt aber kein einziges Foto, das zum Beispiel den minutenlang am Himmel stehenden, fast senkrechten Kondensstreifen einer Rakete zeigt. Oben, in 10 000 Meter Höhe, müsste es zu einer Explosion gekommen sein; die zu Boden fallenden Wrackteile hätten ebenfalls in der Luft Spuren hinterlassen müssen - Bilder und Filme zeigen indes nur eine Explosion am Boden und darüber einen leeren Himmel.

Doch auch die Echtheit dieser Videos und Fotos kann angezweifelt werden. Warum filmte gerade jemand, wenn doch nichts zu sehen war? Die Explosion könnte nachgestellt worden sein. Eines der Videos zeigt eindeutig den Absturz einer brennenden kleineren Maschine, wohl den Abschuss eines ukrainischen An-26-Transporters.

Theorie 2: Es war eine Bombe

Zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Monate war eine Boeing der Malaysia Airlines betroffen. Wollen Unbekannte der Fluggesellschaft schaden, wurde sie vielleicht erpresst? Auch eine Bombe im Frachtraum würde die Maschine so zum Absturz gebracht haben.

Dagegen spricht: Es gibt keine Hinweise auf solche Machenschaften. Dass es wieder die asiatische Airline traf, war wohl Zufall. Eine Bombenzündung ausgerechnet exakt über dem Kampfgebiet der Ost-Ukraine ist unwahrscheinlich.

Theorie 3: Es war eine Fliegerfaust

Ein aufmerksamer Fernsehzuschauer will bei CNN im Beitrag eines russischen Kameramanns eine tragbare Rakete unter den Trümmern erkannt haben. Eine solche Fliegerfaust gegen Hubschrauber und Tiefflieger wird von der Schulter abgefeuert. Nach einigen Sekunden deaktiviert sich ihr Sprengkopf, weil er dann das Ziel verfehlt haben muss und zur Gefahr für die eigene Truppe werden kann. Flog die auf heiße Triebwerke zielende Rakete dennoch weiter, traf den Jet ohne zu explodieren, riss ein Loch in die Außenhaut und ließ ihn dann durch den Unterdruck in größer Höhe bersten? Das Brisante an dieser These: Damit würden die Kleinwaffen, die in Kriegsgebieten wie dem Irak, Libyen und Syrien mutmaßlich in größerer Zahl von Terroristen erbeutet wurden, weltweit zur tödlichen Gefahr für die Zivilluftfahrt - ein unvorstellbarer Alptraum.

Dagegen sprechen Bilder der angesehenen "New York Times": Sie zeigen von Splittern durchsiebte Wrackteile. Nur eine größere Rakete wie die "Buk" kann eine solche Trefferdichte erzielen - aber, so die Kritiker, auch eine auf ein altes Flugzeugteil geworfene Handgranate. Die US-Fotos zeigen leider keinen Hintergrund, mit dem der Absturzort zu identifizieren wäre. Auf allen anderen Fotos von MH 17-Trümmern ist dagegen nirgendwo ein Einschlagloch zu sehen.

Theorie 4: Es war ein Kampfjet

Die Russen behaupten, ein Militärflugzeug der Ukraine sei dem Passagierjet bedrohlich nahe gekommen - dahinter steht der Vorwurf, diese Sukhoi Su-25 habe das Feuer eröffnet. Es handelt sich dabei um ein gepanzertes Flugzeug gegen Bodentruppen, nicht um einen Abfangjäger; höher als 7000 Meter fliegt diese schwere Maschine nicht. Sie könnte aber eine Rakete nach oben geschossen haben. Kritiker der USA greifen diese Spekulation gern auf. Sie konstruieren: Der Absturz sorgt für weltweite Empörung, isoliert Russland noch mehr und ermöglicht der Regierung in Kiew ein deutlich härteres Durchgreifen gegen die Separatisten - also haben die Mächtigen in Washington und Kiew ihre Finger im Spiel.

Verdächtig gemacht haben sich aber die prorussischen Separatisten. Sie behinderten Beobachter, räumten Wrackteile mit unbekanntem Ziel ab und stoppten nicht die Plünderung der toten Passagiere und ihres Gepäcks. Die Echtheit von Funkgesprächen, in denen sie sich mit dem Abschuss brüsten, ist natürlich ebenfalls umstritten. Aber erst nach Tagen lieferten die Aufständischen den Flugdatenschreiber aus - es blieb viel Zeit für Manipulationen. Am plausibelsten erscheint, dass die Separatisten mit russischer Technikhilfe ein ukrainisches Flugzeug abschießen wollten - und sich im Ziel irrten. Der Rebellenkommandeur Alexander Chodakowski hatte der Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch bestätigt, dass die Separatisten zeitweise über ein "Buk"-System aus Russland verfügt hätten, stellte dies allerdings gestern als Missverständnis dar.

Theorie 5: Kiew wollte Putin töten

In Donezk und Moskau kursieren besonders radikale Vermutungen zum Flug MH 17. Die Passagiere seien bereits tot in Amsterdam ins Flugzeug gesetzt worden, erklärte der Separatistenführer Igor Girkin. Präsident Vladimir Putin, auf dem Rückflug von der Südamerika-Konferenz, sei das wahre Abschussziel der Ukrainer gewesen, behauptete das staatlich kontrollierte russische Fernsehen.

Beides erscheint absurd. Warum hätte man die Passagiere vorher töten sollen? Der Zustand der Leichen ist wohl eher auf den Druckabfall, den Aufschlag und die Hitze zurückzuführen. Und eine derart spektakuläre Ermordung Putins gäbe ebenfalls keinen Sinn. Zudem flog Putins Regierungsmaschine wohl leicht zeitversetzt eine etwas andere Route.

Theorie 6: Es wird etwas vertuscht

Die Ost-Ukraine ist mutmaßlich zurzeit das am aufmerksamsten beobachtete Gebiet der Welt. Warum veröffentlicht die Nato nicht die Erkenntnisse, die die Radarbeobachter an Bord der Awacs-Aufklärer besitzen? Warum zeigen die Amerikaner keine Satellitenbilder?

Die Geheimhaltung eigener Aufklärungsfähigkeiten mag eine Rolle spielen. Die Datenauswertung, auch die des Flugschreibers, braucht allerdings schlicht Zeit. Die Blackbox könnte einen abrupten totalen Kontrollverlust über den Jet aufgezeichnet haben. Enthält sie einen intakten Voice-Recorder, ist vielleicht eine Explosion zu hören. Und die Awacs-Jets haben möglicherweise registriert, dass sich andere Flugzeuge der Boeing näherten. Die Obduktion der Toten in den Niederlanden könnte zudem Splitterwunden nachweisen. Diese Erkenntnisse werden zwar den Täterkreis einengen, die Schuldigen aber wohl nicht entlarven.

(RP)
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