Henry Kissinger wird 90 Die Renaissance des kühlen Realpolitikers

Washington · Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger feiert heute seinen 90. Geburtstag. Präsident Barack Obama hat ihn als stocknüchternen Ratgeber wiederentdeckt.

Geballte Erfahrung: Schmidt und Kissinger
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Der arabische Frühling, dozierte der ergraute Stratege Henry Kissinger, werde häufig gefeiert, indem man die Namen gestürzter Autokraten aufliste, wie bei einem Zählappell der Entmachteten. "Aber am Ende werden Revolutionen in erster Linie daran gemessen, was sie aufbauen, nicht daran, was sie zerstören. Und in dieser Hinsicht hat diese Revolution die Heiterkeit des Anfangs ins Paradoxe gedreht."

Da war er wieder, der kühle Realpolitiker, den das Amerika der alten konservativen Schule als weisen Staatsmann feiert, während ihm das idealistische Amerika einen Zynismus unterstellt, wie er schlecht passt zum Optimismus, ja, zum Sendungsbewusstsein der Neuen Welt. An Henry Kissinger, der am 27. Mai seinen 90. Geburtstag feiert, scheiden sich noch immer die Geister. Zumal er sich alle paar Wochen zu Wort meldet, um das Zeitgeschehen zu kommentieren, so wie in oben zitiertem Essay in der "Washington Post".

Liest man Kissinger, liest es sich bisweilen wie ein Skript für Barack Obama. Zumindest gilt das für Syrien, einen Konflikt, der in der inneramerikanischen Debatte den uralten Streit zwischen Realisten und Idealisten in neuer Schärfe aufflackern lässt. Wer ans Intervenieren denke, mahnt der frühere Außenminister, müsse bei Strafe teuren Lehrgelds die Lektionen des Irak-Feldzugs bedenken. Man dürfe nicht zulassen, dass Verwaltungsstrukturen zerbrechen und sich die Armee auflöst, denn ein solches Vakuum sei das Gefährlichste.

"Schaut Obama nach Syrien, sieht er Bagdad"

Die Idee einer Syrien-Konferenz hält er für richtig, gleichwohl warnt er davor, sie mit Erwartungen zu überfrachten. Das Patt zwischen Baschar al Assad und den Rebellen lasse alles erwarten, nur keine schnelle Lösung. "Ausländische Mächte fordern die Regierung auf, mit ihren Gegnern zu verhandeln, um Letzteren die Macht zu übertragen. Doch was beide Seiten interessiert, ist das eigene Überleben, weshalb derartige Appelle gewöhnlich auf taube Ohren stoßen."

Auch wenn es niemand im Weißen Haus so unverblümt sagen würde, die Skepsis ist die gleiche. Die Furcht ist groß, dass die USA in den Strudel eines Bürgerkriegs hineingezogen werden, wohl oder übel die erste Geige spielen müssen und — wie im Irak — überfordert sein werden bei dem Versuch, den Schaden zu reparieren, die Aussöhnung zu organisieren und das Machtvakuum zu füllen. "Schaut Obama nach Syrien", fasst es die Zeitschrift "New Yorker" zusammen, "sieht er das Bagdad des Jahres 2003 — wir alle erinnern uns noch an diesen Film."

Der in Worten einst so inspirierende Hoffnungsträger, in der Praxis regiert er mit einer Vorsicht, die auf demselben nüchternen Blick auf die Welt gründet, wie er typisch ist für Kissinger. Kein Zufall auch, dass sich John Kerry, der neue Chef im Außenamt, auf Kissinger berief, als er nach dem Amtsantritt erste Pläne skizzierte. 1994, die einzig verbliebene Supermacht wähnte sich im Zenit ihrer Macht, bürstete der frühere Harvard-Professor in seinem Buch "Diplomacy" gegen den Strich um sich greifender Hybris, indem er eine ausgeprägt multipolare Welt prophezeite. "Nie zuvor musste eine Weltordnung aus so vielen verschiedenen Sichtweisen zusammengesetzt werden."

Unordnung schlimmer als Ungerechtigkeit

Unordnung sei schlimmer als Ungerechtigkeit, hat der Biograf Robert Kaplan einmal über den Leitfaden des Systems Kissinger geschrieben. Der Mann akzeptiere, dass die Welt nicht perfekt, nicht gerecht für alle sein könne. Unordnung aber bedeute das Fehlen von Gerechtigkeit für ausnahmslos alle. Hinter der These, so Kaplan, stehe eine zutiefst persönliche Erfahrung. Kissinger, der 1938 als Jude aus dem fränkischen Fürth fliehen musste, hat erlebt, wie der Nationalsozialismus mit seinen Schlägertrupps ein scheinbar sicheres Lebensumfeld aus den Angeln hob.

Im Kalten Krieg wiederum sah er die Sowjetunion als Teil eines Ordnungssystems, eine Macht, deren Einfluss die USA sowohl eindämmten als auch respektierten, damit "revolutionäres Chaos" auf die Randgebiete der Blockkonfrontation in der Dritten Welt beschränkt blieb. Schon die Doktorarbeit, die er in Harvard ablieferte, widmete Kissinger einem Dirigenten der Macht, dem österreichischen Staatsmann Klemens Fürst von Metternich.

Der hatte mit skrupelloser Geheimdiplomatie liberale Keime erstickt, um nach den Napoleonischen Kriegen die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Ein Reaktionär, der jede Erhebung im Namen der Freiheit als sicheren Weg ins Chaos verabscheute. Kissinger zeichnete ihn, vor fast 60 Jahren, in weitaus milderem Licht, nämlich als Faktor der Stabilität. Metternich, schrieb er, habe zwar weder große Konzepte hervorgebracht, noch den Träumen einer ungeduldigen, rebellischen Generation Rechnung getragen, wohl aber habe er das Gleichgewicht der Kräfte gesichert.

(RP/jco)
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