Fahrrad-Boom an der Seine Die Pariser schwingen sich in den Sattel

Paris · Anne Hidalgo, Oberbürgermeisterin der Seine-Metropole, lässt für 150 Millionen Euro Radwege bauen. Aus Überzeugung, aber auch aus politischem Kalkül.

 Die Corona-Pandemie hat dem Radverkehr in Paris zusätzlichen Rückenwind beschert.

Die Corona-Pandemie hat dem Radverkehr in Paris zusätzlichen Rückenwind beschert.

Foto: dpa

Radfahren in Paris könnte paradiesisch sein. Aber auf den Straßen und der wunderschönen Uferpromenade an der Seine lauern auf den Radfahrer überall Widersacher. Autos gehören natürlich dazu oder Lieferwagen, die beim Entladen die Radwege rücksichtslos zuparken. Unachtsame Fußgänger sind auch ein Graus, vor allem jene Touristen, die in Gruppen mit staunenden Augen absonderliche Bahnen ziehend durch die Stadt wandeln. Menschen auf Elektrorollern sind ebenso schwer kalkulierbar wie andere Radfahrer. Die meisten von ihnen sehen die Regeln der Straßenverkehrsordnung allenfalls als gutgemeinte Vorschläge.

Verschärft wird die Misere dadurch, dass die meisten Einwohner von Paris erst vor Kurzem das Radfahren für sich entdeckt haben. Das heißt, das Geschick, sich auf zwei Rädern mit zügiger Geschwindigkeit in einer geraden Linie fortzubewegen, ist bisweilen nicht sonderlich ausgeprägt. Meister der überraschenden Blockade sind allerdings die unzähligen Pizza-Boten auf ihren Drahteseln. Sie suchen meist verzweifelt eine Lieferadresse, die Augen konzentriert auf den Stadtplan in ihrem Smartphone geheftet.

Doch im verwirrenden Raduniversum der Millionenmetropole herrscht nicht nur Verdammnis, es gibt auch noch Anne Hidalgo, die Schutzheilige der Radfahrer. Seit Jahren treibt die Oberbürgermeisterin den Ausbau des Radwegenetzes in der Stadt voran. Allein seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurden von ihr in Windeseile rund 50 Kilometer sogenannte Pop-up-Streifen ausgezeichnet. Faszinierend ist, mit welcher Verve die Politikerin ans Werk geht. Immer wieder entstehen ohne Vorwarnung über Nacht neue Wege, abgetrennt durch dicke, gelbe Linien. Das heizt natürlich die Wut der staugeplagten Autofahrer immer weiter an, da der Platz für die neuen Pisten sehr großzügig von den Fahrbahnen abgezwackt wird. Das ist eine eher abträgliche Gefühlslage für ein gedeihliches Miteinander im hektischen Straßenverkehr von Paris.

In den Kreisen von Rad-Enthusiasten legendär ist die Geschichte, wie die Rue de Rivoli, eine der großen Achsen am Louvre vorbei, im Zuge der Corona-Maßnahmen von einem Tag auf den anderen für den Durchgangsverkehr gesperrt und zur Einbahnstraße gemacht wurde. Auf einer schmalen Spur fahren dort nun Busse und Taxis, der große Rest gehört den Radfahrern. Das prophezeite Verkehrschaos blieb aus, was den Eifer von Anne Hidalgo noch weiter anheizte. Die überzeugten Automobilisten fürchten nun, dass diese Pop-up-Radwege auch nach dem Ende der Pandemie weiter bestehen bleiben – die Bürgermeisterin hat sich bereits sehr eindeutig in diese Richtung geäußert.

Den Umbau von Paris zur Radhauptstadt hat sie allerdings nicht nur aus Liebe zu den Vélo-Fahrern in Angriff genommen. Dahinter steht eine große Portion politisches Kalkül. Weit über die Hälfte der Einwohner von Paris besitzt kein Auto mehr, was die Bürgermeisterin dazu veranlasst, den Verkehr aus der Stadt zu drängen und die Lebensqualität ihrer potenziellen Wähler zu verbessern. Zu diesem Ziel zeichnet sie immer mehr Grünflächen aus, verhängt Tempolimits – und baut Radwege. Der Plan ist es, dass Paris in naher Zukunft von bis zu 1400 Kilometern Radwegen durchzogen ist. Dafür wurden 150 Millionen Euro im Haushalt bereitgestellt.

Die Entwicklung von Paris zur Fahrradstadt ist allerdings eine zähe Geschichte. 1979 war der erste, nur einen Kilometer lange Vélo-Weg eröffnet worden. Es war eine von den Autofahrern nachsichtig belächelte Sensation. Lange geschah danach nichts mehr. Nach mehreren schweren Unfällen von Radfahrern führte der damalige Bürgermeister Jacques Chirac 1982 dann sogenannte „Gassen der Höflichkeit“ ein. Es handelte sich um auf den Asphalt gemalte Pisten, um die sich der gemeine Autofahrer in der Regel allerdings wenig kümmerte. Ein zentrales Problem war, dass die Leute, die mit der Konzeption beauftragt waren, selbst nicht Fahrrad fuhren und nur erahnen konnten, was einen sicheren Radweg auszeichnet. Aber ein Anfang war gemacht.

Auf Druck von Umweltaktivisten wurde schließlich das Radnetz von 4,3 Kilometer im Jahr 1995 bis 2001 auf 257 Kilometer erweitert, hinzu kamen eigene Busspuren, die auch von Fahrrädern genutzt werden durften. Den endgültigen Durchbruch brachte aber Bertrand Delanoë. Der sozialistische Bürgermeister ließ ab 2001 die Straßenbahn ausbauen und schuf 200 Kilometer Radwege, die diesmal ihren Namen verdienten, denn sie waren von den Autospuren getrennt. Er war es auch, der eine gesamte Straße am Seine-Ufer sperren ließ und für Fußgänger und Radfahrer freigab. 2007 weihte Delanoë das „Vélib“-System mit den ersten 7000 Fahrrädern ein, die an bestimmten Stationen ausgeliehen und an anderen wieder eingeklinkt werden können. Zehn Jahre später betrug ihre Zahl 25.000, heute gibt es 1100 Stationen mit jeweils mehr als 40 Rädern.

Paris kennt aber auch eine Spezies von Radfahrern, die auf die Alltagsradler mit einer gewissen Geringschätzung herabschaut. Im Stadtverkehr sind sie nur selten zu finden, denn diese Gattung bewegt sich am liebsten in abgegrenzten Reservaten am Rand der Metropole. Eines dieser Biotope befindet sich rund um die Pferderennbahn Longchamp im Bois de Boulogne. Dort liegt ein breiter Rundkurs, etwa drei Kilometer lang, auf dem jeden Abend streng im Uhrzeigersinn Horden von Rennradfanatikern auf ihren High-Tech-Maschinen Jagd aufeinander machen. Auf diesem Asphaltkurs herrscht das gnadenloses Gesetz des Stärkeren, und die Fahrer tragen nicht nur das bunte Trikot, sondern auch den Killerinstinkt eines Tour-de-France-Teilnehmers in sich.

Bisweilen verirren sich einzelne dieser Wettkampf-Radler auf dem Heimweg in den normalen Pariser Straßenverkehr. Aber auch dort legen sie ihren Killer-Instinkt nicht ab, sondern stürzen sich mit Todesverachtung und abstrus hoher Geschwindigkeit in die Blechlawine. Sind sie am anderen Ende des Gewimmels dem eigentlich unvermeidlichen Tode entkommen, rasen sie weiter ihrem Ziel entgegen, unbeirrt und in der sicheren Gewissheit: Die Verrückten sind immer die anderen.

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